Vom Kriege
geschehen, daß er oft in das Gebiet der Theorie hinüberschweift und sich diejenigen Punkte noch aufklärt, auf die es ihm besonders ankommt. Es kann vielmehr umgekehrt der Zweck der Kritik ganz verfehlt werden, wenn sie zu einer geistlosen Anwendung der Theorie wird. Alle positiven Ergebnisse der theoretischen Untersuchung, alle Grundsätze, Regeln und Methoden ermangeln der Allgemeinheit und absoluten Wahrheit um so mehr, je mehr sie zur positiven Lehre werden. Sie sind da, um sich beim Gebrauch anzubieten, und dem Urteil muß es immer überlassen bleiben, ob sie angemessen sind oder nicht. Solche Resultate [128] der Theorie darf die Kritik nie als Gesetze und Normen zum Maßstabe gebrauchen, sondern nur als das, was sie auch dem Handelnden sein sollen, als Anhalt für das Urteil. Wenn es in der Taktik eine ausgemachte Sache ist, daß in der allgemeinen Schlachtordnung die Reiterei nicht neben, sondern hinter das Fußvolk gehört, so wäre es doch töricht, jede davon abweichende Anordnung deshalb zu verdammen; die Kritik soll die Gründe der Abweichung untersuchen, und nur wenn diese unzureichend sind, hat sie ein Recht, sich auf die theoretische Feststellung zu berufen. Wenn es ferner in der Theorie ausgemacht ist, daß ein geteilter Angriff die Wahrscheinlichkeit des Erfolges vermindert, so würde es ebenso unvernünftig sein, überall, wo ein geteilter Angriff und schlechter Erfolg zusammentrafen, ohne weitere Untersuchung, ob es sich wirklich so verhält, den letzten als die Folge des ersten zu betrachten, oder da, wo der geteilte Angriff einen guten Erfolg hatte, etwa daraus rückwärts auf die Unrichtigkeit jener theoretischen Behauptung zu schließen. Beides soll der untersuchende Geist der Kritik nicht erlauben. Es ist also hauptsächlich auf die Resultate der analytischen Untersuchung in der Theorie, auf welche sich die Kritik stützt; was hier schon ausgemacht ist, hat sie selbst erst nicht von neuem festzustellen, und es wird dort ausgemacht, damit sie es festgestellt vorfinde.
Diese Aufgabe der Kritik, zu untersuchen, welche Wirkung aus der Ursache hervorgegangen ist, und ob ein angewandtes Mittel seinem Zweck entsprochen habe, wird leicht sein, wenn Ursache und Wirkung, Zweck und Mittel nahe beieinanderliegen.
Wenn eine Armee überfallen wird und dadurch zu keinem ordnungsmäßigen und verständigen Gebrauch ihrer Fakultäten kommt, so ist die Wirkung des Überfalles nicht zweifelhaft. - Wenn die Theorie ausgemacht hat, daß ein umfassender Angriff in der Schlacht zu größerem, aber weniger gesichertem Erfolge führt, so fragt es sich, ob der, welcher den umfassenden Angriff anwendet, sich vorzugsweise die Größe des Erfolgs zum Ziel gesetzt hat; in diesem Fall ist das Mittel richtig gewählt. Hat er aber damit seinen Erfolg gewisser machen wollen, und war dieser nicht auf die individuellen Umstände, sondern auf die allgemeine Natur des umfassenden Angriffs gegründet, wie wohl hundertmal vorgekommen ist, so hat er die Natur jenes Mittels verkannt und einen Fehler begangen.
Hier ist das Geschäft der kritischen Untersuchung und Prüfung nicht schwer, und es wird jedesmal leicht sein, wo man sich auf die nächsten Wirkungen und Zwecke beschränkt. Man kann dies ganz nach Willkür tun, sobald man von dem Zusammenhange mit dem Ganzen abstrahieren und die Dinge nur in diesem Verhältnisse betrachten will.
Es steht aber im Kriege, wie überhaupt in der Welt, alles im Zusammenhange, was einem Ganzen angehört, und folglich muß jede Ursache, wie klein sie auch sei, in ihren Wirkungen sich bis ans Ende des kriegerischen Aktes erstrecken und das Endresultat, um ein wie Geringes es auch sein [129] möge, modifizieren. Ebenso muß jedes Mittel bis zu dem letzten Zweck hinaufreichen.
Man kann also die Wirkungen einer Ursache so lange verfolgen, als Erscheinungen noch des Beobachtens wert sind, und ebenso kann man ein Mittel nicht bloß für den nächsten Zweck prüfen, sondern auch diesen Zweck selbst als Mittel für den höheren, und so an der Kette der einander untergeordneten Zwecke hinaufsteigen, bis man auf einen trifft, der keiner Prüfung bedarf, weil seine Notwendigkeit nicht zweifelhaft ist. In vielen Fällen, besonders wenn von großen entscheidenden Maßregeln die Rede ist, wird die Betrachtung bis zu dem letzten Zweck, bis zu dem, welcher unmittelbar den Frieden bereiten soll, hinaufreichen müssen.
Es ist klar, daß man diesem Hinaufsteigen mit jeder neuen Station, die man einnimmt, einen
Weitere Kostenlose Bücher