Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
Nach
ewig langem Überlegen fällt mir ein, dass ich sie gestern im Empfangsraum der
Herberge vergessen habe. Leider ist dieser abgeschlossen, und weit und breit
kein hospitalero zu sehen. Gleich müsste der Bus eintreffen, der Marcos
nach Santiago de Compostela bringt. Praktischerweise liegt die Haltestelle genau
hinter der Herberge, ungefähr dort, wo ich mir gestern meinen Knöchel
angestoßen habe. Falls in der nächsten halben Stunde jemand den Empfangsraum
aufschließen sollte, würde ich es mitbekommen.
Die meisten Pilger, die bis zur
Atlantikküste laufen, beenden ihren Weg hier in Fisterra und fahren
anschließend wieder nach Santiago zurück, um sich per Bahn oder Flugzeug in
alle Welt zu verstreuen. Nur ein Bruchteil läuft weiter nach Muxía. Die beiden
Orte liegen an der Westspitze Galiciens und sind durch einen weiterführenden
Jakobsweg miteinander verbunden. Kurz nach Hospital, dem Ort, an dem sich
Helmut um neun das Bier genehmigt hat, teilt sich der Camino, und man kann den
Weg nach Norden Richtung Muxía oder nach Süden Richtung Fisterra einschlagen.
Viele laufen auch zunächst nach Muxía und schließen ihren Weg in Fisterra ab.
Um es kurz zu machen: Kaum jemand beendet seinen Weg in Muxía, weshalb ich mir
um einen Schlafplatz keine Sorgen machen muss.
Nach und nach versammeln sich
immer mehr Menschen an der Haltestelle. Während wir auf den Bus warten, reden
wir nicht viel. Allerdings liegt das nicht am bevorstehenden Abschied, sondern
an der Müdigkeit. Als der Bus schließlich vorfährt, verabschiede ich mich von
Marcos. Er hatte mich den kompletten Weg über an der Backe, unfassbar; ich
hätte nie gedacht, dass das jemand aushält. Allerdings dauert es noch eine
halbe Ewigkeit, bis das Gefährt mit meinem Gefährten verschwindet. So komme ich
nebenher mitPhilipp ins Gespräch, der ebenfalls jemanden verabschiedet
hat.
»Weißt du, ob heute noch jemand
kommt?«, frage ich ihn und deute auf den Empfangsraum.
Er zuckt die Achseln. »Wieso?«
»Meine Stöcke stehen da drin«,
antworte ich.
»Ich muss da auch noch hinein«,
bemerkt er, »meine bocadillos sind noch in der Küche.«
Chris, die sich auf einen
erholsamen Tag am Strand freut, und Evelyn, die sich heute den Sonnenuntergang
ansehen möchte, wollen nicht länger warten. Wir verabschieden uns voneinander,
und die beiden verschwinden. Irgendwann erinnert sich der Bus dann doch noch an
seine Fahrtüchtigkeit. Es ist kurz vor neun, und noch immer ist niemand
aufgetaucht, der den Empfangsraum aufschließen könnte. Philipp beschließt, erst
einmal eine neue Unterkunft zu suchen und die bocadillos später
abzuholen. Bisher haben mir die Wanderstöcke viel Ärger eingebracht, richtig
warm geworden bin ich mit ihnen nicht. Ergo wäre es doch genau das passende
Ende unserer wechselhaften Beziehung, sie in einem abgeschlossenen Raum
zurückzulassen. Bevor ich mich auf die Socken mache, schieße ich noch ein
Abschiedsfoto durchs Küchenfenster.
Mein Wanderführer behauptet,
die heutige Etappe von Fisterra nach Muxía sei »leicht« und »gut markiert«.
Aber schon nach wenigen Minuten weiß ich überhaupt nicht mehr, wo ich bin. Erst
laufe ich in eine Sackgasse, anschließend auf irgendein Feld. Weit und breit
sind keine Markierungen zu entdecken. Ich bin genervt. Heute möchte ich
ausnahmsweise mal nur laufen, sonst nichts. Nicht herumirren, nicht
herumlungern, einfach bei strahlendem Sonnenschein an der Atlantikküste
entlangwandern. Aber dann müsste ich wissen, wo genau ich entlangwandern
soll. Glücklicherweise entdecke ich in der Ferne einen Schäfer, der mich
schnell als Pilger identifiziert und querfeldein auf den Camino zurückschickt.
Nach wenigen Minuten durchquere ich ein Waldstück, in dem Forstarbeiter zugange
sind. Tiefe Reifenspuren im Boden erschweren das regelmäßige Wandern, besonders
ohne Stöcke. Zum Glück ist der Wald nicht besonders weiträumig, und
bald gelange ich auf eine asphaltierte Straße.
Jetzt, da ich ungestört und
völlig allein wandern kann, genieße ich den wunderschönen Weg. Verträumt und
abgeschieden liegen die Weiler mitten in den Feldern, hórreos und
Wegkreuze schmiegen sich an den Camino, moderne Bauten und prachtvolle Ruinen
buhlen Seite an Seite um Aufmerksamkeit. Nach kurzer Unterbrechung gelange ich
in das nächste Waldstück, diesmal allerdings ohne einen völlig zerfurchten
Knöchelbrecherweg. Um zwanzig nach zehn erreiche ich das winzige Dorf Buxán.
Unter einem hórreo ist ein Hund
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