Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
so unglaublich wichtig, meine Güte, derselbe Tag bei heftigem
Niederschlag und frontalem Wind, ich würde kotzen oder heulen, eventuell sogar
beides. Unter mir erstreckt sich ein nahezu menschenleerer Traumstrand, nur
zwei winzige Figürchen haben sich hierher verirrt.
Wenige Minuten später, es ist
kurz nach drei, treffe ich auf meine wartenden Gefährten Chris und Marcos. Von
Evelyn fehlt allerdings jede Spur. Die beiden haben sie nicht vorbeikommen
sehen, und ich habe sie seit Os Camiños Chans nicht überholt. Also entweder hat
sich die Gute verlaufen, oder sie hängt in irgendeiner Bar und pfeift sich eine
polnische Kleinigkeit wie Spanferkel mit Ofenkartoffeln rein. Wie dem auch sei,
wir beschließen, den zwei Kilometer langen Traumstrand Praia da Langosteira
barfuß zurückzulegen. So kommt Marcos doch noch zu seinem »Socken aus und
waten!«. Wenige Minuten später stößt endlich auch Evelyn zu uns, die sich
komplett verlaufen und einen riesigen Umweg hinter sich hat. Aber sie strahlt
wie immer, zieht sich die Wandersandalen aus und reiht sich in unseren
Gänsemarsch ein.
Gemeinsam laufen wir durch die
Wellen und suchen Jakobsmuscheln. Ich finde zwei winzige, dazu jeweils eine
schöne Ober- und eine Unterschale. Marcos möchte zwölf winzige Schalen für
seine Verwandten und Freunde finden. Chris legt erst einmal ihr Gepäck ab und
springt in die eiskalten Fluten. Jetzt muss sie nur noch ihre Pilgerkleidung
verbrennen und den Sonnenuntergang betrachten, um laut Legende als neuer Mensch
zu erwachen. Ich sage ihr gleich, dass wir sie so behalten wollen wie sie ist,
was sie natürlich freut. Es sind mit Abstand die schönsten zwei Kilometer des
gesamten Camino. Über uns strahlender Sonnenschein, um uns herum eine
erfrischende, leicht salzige Brise. Die geschundenen Füße graben sich in den
feinen Sand, um sie herum tanzen von Wellen getrieben winzige wie stattliche
Muscheln und Schnecken. Zudem haben sich heute nur wenige Menschen hierher
verirrt, dabei liegt der Strand direkt vor dem Ort San Martin. Glücklich und
zufrieden — und wann war ich das bitte das letzte Mal? — erreichen wir
Fisterra, unser heutiges Etappenziel. Mehr als eine Stunde haben wir olle
Trödler für die zwei Kilometer gebraucht. Enttäuscht stellt Marcos fest, dass
er nur zehn Mini-Schalen finden konnte’ Ihm fehlen genau zwei. Genau die zwei,
die ich gefunden habe. Da uns der Camino schon den gesamten Tag über die
Zufälle um die Ohren haut, überreiche ich Marcos meine. Er ist glücklich. Ich
bin glücklich. Chris ist klitschnass.
Als wir um ziemlich genau
siebzehn Uhr die örtliche Herberge erreichen, rechnen wir fest damit, uns heute
in einem Hostel einquartieren zu müssen. Aber fragen kann man ja mal. Außerdem
bekommen alle Pilger, die bereits die Compostela besitzen und zu Fuß, per
Fahrrad oder zu Pferde nach Fisterra kommen, in der Herberge die Pilgerurkunde
Fisterrana. Passend dazu gibt es an meinem morgigen Etappenziel Muxía das
Pendant Muxiana. Während ich auf meine Urkunde warte, stelle ich meine Stöcke
in die Ecke und lasse erst einmal alles sacken. Was für eine unglaubliche,
grandiose, spektakuläre Etappe. Scheinbar hält heute jemand eine schützende
Hand über uns, denn in der Herberge sind tatsächlich noch etwa sieben Betten
frei. Das war wieder einmal äußerst knapp. Ganz kurz überlege ich, bei der
spanischen Lotterie mitzuspielen; bei dem Glück, das wir heute haben.
Während sich Evelyn für ein separates Abendprogramm entscheidet, kaufen Chris,
Marcos und ich im Supermarkt Zutaten für bocadillos sowie sechs Dosen
Estrella Galicia, leckeres galicisches Bier. Wenige Minuten später trotten wir
in einer langen Pilger- und Touristenkolonne die knapp drei Kilometer zum
Leuchtturm am Cabo Fisterra. Wenige Meter davor steht der allerletzte Kilometerstein
des Camino a Fisterra mit der Kilometerangabe »0,00«. Wie praktisch, dass in
diesem Moment unser persönlicher Camino-Fotograf und Lieblings-Wiener Philipp
auftaucht. Er scheint sich auf Zielfotos spezialisiert zu haben; so knipst er
nach unserem Gruppenfoto vor der Kathedrale von Santiago auch dieses vor dem
Nuller. Ein völlig absurder Zufall, aber er passt zum heutigen Tag voller
merkwürdiger Ereignisse.
Nachdem wir uns im Leuchtturm
unsere Pilgerpässe abstempeln lassen, hocken wir uns auf einen Felsen hoch über
den tosenden Atlantikwellen, basteln uns bei Windstärke zehn mit viel Mühe
unsere bocadillos und lassen uns das kühle Bier
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