Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
Deutschlehrer durch Kommentare bezüglich der
Herkunft meiner Eltern häufig am Rande des guten Geschmacks. Vor der
versammelten Klasse machte er sich über mich lustig, wenn ich anmerkte, ein
bestimmtes Wort nicht zu kennen. Für einen Ausländer, der seit frühester
Kindheit mit Rassismus konfrontiert wurde, existiert keine effektivere Methode,
um dessen Lernmotivation abzutöten. Daher habe ich mich bis zu meinem
dreiundzwanzigsten Lebensjahr geweigert, freiwillig ein Buch durchzulesen. Mir
fehlte einfach der Spaß an der deutschen Sprache. Nachdem ich mein Abi in der
Tasche hatte, habe ich ihm sachlich und durch Argumente gestützt meine ehrliche
Meinung ins Gesicht gesagt, was dazu geführt hat, dass er mich seither nicht
mehr grüßt, wenn wir uns zufällig begegnen. Tja, jeder muss sich der
Vergangenheit stellen.
Und das tue ich nun, indem ich
mich eben ohne Französischkenntnisse in die Konversation mit Marie stürze. Man
muss einfach nur die Angst überwinden, oder wie war das doch gleich? Bei ihr
fällt es mir leicht, denn sie besitzt eine ansteckende, unglaublich positive
Ausstrahlung. Sie garniert ihr Französisch mit einigen Brocken Spanisch, ich
kombiniere mein gebrochenes Spanisch mit Pantomime. Ich finde ja, dass solche
Kommunikationsformen eine Menge Potential für herrlich komische Momente
liefern. Und natürlich Erfolgserlebnisse. Hey, jedes Mal, wenn ich etwas
verstehe oder wenn ich ihr etwas übermitteln kann, bricht in mir eine Riesenparty
aus. Sie erzählt mir, dass sie jederzeit einzig und allein ihrem Bauchgefühl
vertraut. Wenn sie beispielsweise Lust auf eine Übernachtung unter freiem
Himmel bekommt, sucht sie sich einfach ein nettes Plätzchen irgendwo auf einem
Feld und legt sich hin. Wenn ihr nach einer Rast ist, hockt sie sich an den
Wegesrand und rastet. Und wenn sie Lust auf Gesellschaft und eine Herberge
verspürt, kehrt sie in der nächsten albergue ein, egal wie luxuriös oder
zerrockt sie wirkt. Also ich hoffe sehr, dass es mir in dreißig Jahren
annähernd so gut geht wie ihr. Oder dass ich zumindest zulassen kann, dass es
mir so gut geht.
Etwa vierzig Minuten später
folgt ein respektabler Aufstieg von über hundert Höhenmetern. Irgendwann werden
wir von einigen Radpilgern überholt. An einem der Fahrräder entdecke ich ein
Alemannia-Aachen-Wappen und rufe dem Fahrer hinterher: »Aaaaalemannia!« Er
dreht sich um, entdeckt den Schalker und freut sich. Normalerweise feuere ich
keine Schwarzgelben an, aber bei einem pilgernden Alemannen handelt es sich
wenigstens um einen Anhänger eines richtigen Fußballvereins. Nachdem das
Plateau erklommen ist, wartet auf uns ein schattenloser Rastplatz. Auf den
wenigen Betonliegen haben sich die Radpilger breitgemacht. Als sie uns kommen
sehen, ruft der Alemanne seinen Freunden zu: »Kommt Jungs, macht Platz für die
echten Pilger.« Wir plauschen ein wenig über Fußball, bevor die Jungs ihren Weg
fortsetzen. Avril und Melanie haben, sich längst auf die Betonliegen gefläzt
und strecken die Beine aus. Ich dagegen widme mich ausgiebig der Wasserpumpe,
die miserabel isoliert ist und bei jedem Pumpvorgang aus mehreren Löchern
gleichzeitig spuckt. Ich pumpe und pumpe, und als meine Wasserflasche endlich
aufgefüllt ist, stehe ich mitten in einem See.
Etwa zwanzig Minuten später
durchqueren wir ein extrem hässliches Neubaugebiet. Und wenn ich »extrem«
schreibe, dann nur, weil mir gerade kein stärkeres Wort einfällt. Wir laufen in
eine jungfräuliche Vorstadtsiedlung mit vier, fünf unterschiedlichen
Häusertypen. Aus ihnen, die sich auch noch architektonisch hart an der Grenze
zu Scheiße bewegen, wurde hier eine ganze Siedlung aus dem Boden gestampft. Nur
wenige Häuser sind bewohnt. Trotzdem entstehen immer noch neue. Ich wette, in
zehn Jahren wird es hier keinen Deut voller aussehen. Wer will denn bitteschön
in diesen gleichförmigen Bunkern irgendwo im Niemandsland leben? Zudem frage
ich mich, wie jemand auf die Idee kommen kann, dermaßen unansehnliche Ergüsse
in diese wunderschöne Landschaft zu setzen. Ich kann es mir nur so erklären,
dass die meisten von uns schnell den Blick für die Schönheit seiner eigenen
Umgebung verlieren. Wer von uns fährt denn morgens zur Arbeit und genießt die
Landschaft, die Bäume am Straßenrand, die ersten Sonnenstrahlen des Tages?
Stattdessen mosern wir über den blöden Vordermann in seinem Corsa, hetzen über
Bahnsteige, kämpfen innerlich bereits mit unzähligen Terminen des Tages.
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