Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
Rothenburg ob der Tauber, nur nicht mit ganz so vielen Japanern. In einem
Supermarkt kaufen wir Zutaten für unser heutiges Abendessen. Michelle lässt
sich von der plötzlichen Farbenpracht dazu verleiten, in jedes Regal zu
greifen.
»Die Kekse könnten wir als
Proviant mitnehmen. Den Joghurt könnten wir später essen. Tee am Morgen wäre
nicht schlecht. Haben wir genügend Brot dabei? Wir könnten uns morgen früh
Brote schmieren.«
» What are you doing?«, bremse ich ihren Eifer. »Alles, was wir nicht essen, müssen wir schleppen,
Michelle! Reichen dir deine dreizehn Kilo nicht?«
»Oh, du hast Recht.« Zwar
bringt sie nicht alles, aber doch den Großteil zurück.
Auf dem Rückweg in die Herberge
beginnt es plötzlich wie aus Kübeln zu regnen. Wir eilen durch die Gassen zum
Waschraum, nehmen unsere klatschnasse Wäsche aus der Maschine und laufen über
die Straße in unsere Herberge.
Was nun folgt, regt mich im
Nachhinein ein wenig auf. Ob es eine Sache der Erziehung oder der Gewohnheit
ist, vermag ich nicht zu ermitteln, die Mädels sagen einfach nie bescheid, wenn
sie irgendetwas tun. Sie tun es einfach. Das mag eine gewisse, etablierte Form
der Selbstbestimmung sein. Wenn man allerdings darauf wartet, gemeinsam zur
Kathedralbesichtigung aufzubrechen, und man erfährt beim Abendessen, dass Avril
und Melanie bereits dort gewesen sind, dann fühlt man sich schon ein wenig
missachtet. Natürlich soll jeder das tun, was er möchte, aber meine Eltern
haben mir beigebracht mitzudenken, das heißt sich jederzeit um andere zu
kümmern. Eine typisch japanische Verhaltensweise, wohlgemerkt. Anders
formuliert: Wenn ich irgendwo hingehen möchte, frage ich die anderen, ob jemand
von ihnen mich begleiten möchte.
Dass ich die Öffnungszeiten des
Gotteshauses verpasst habe, wurmt mich sehr. Nicht, dass ich gläubig wäre, ganz
im Gegenteil. Aber die Hühner gehören zur Pilgerschaft einfach dazu. Notiz an
mich: Wenn ich etwas tun möchte, sollte ich es tun. Sofort und ohne Umschweife.
Als Ersatzbefriedigung kocht Melanie uns einen leckeren Reistopf mit ordentlich
Kurkuma. Nicht schlecht, nicht schlecht. Dabei achtete sie während des Kochens
eigentlich nur auf die Farbe des Topfinhalts, nicht auf den Geschmack.
Nach dem Essen kommt Avrils
deutscher Teil zum Vorschein. Eigentlich geht es nur darum, Folgendes
auszurechnen: Wir haben uns zwei Waschmaschinenladungen und das Essen geteilt.
Außerdem haben Avril und Michelle sich noch eine Trocknerladung gegönnt. Avril
hat dreizehn Euro beigesteuert, ich drei Euro fünfzig, Melanie zwei Euro
fünfzig und Michelle sieben Euro. Ob Tagesplanung oder Essen, Ausdrucksweise
oder der menschliche Umgang — Avril besteht darauf, dass alles korrekt und
einwandfrei abgewickelt wird. Also lassen wir sie rechnen, und rechnen, und
rechnen. Und rechnen, und rechnen, und rechnen. Und am Ende haben wir plötzlich
einen Euro zu viel! Avril kann es nicht glauben, ich schmeiße mich weg vor
Lachen, Michelle versucht, den einen Euro noch irgendwo unterzubringen, und
Melanie geht erst einmal eine rauchen.
Heute Nachmittag haben Melanie
und ich Wolfgang aus der Nähe von Köln kennen gelernt. Wolfgang trägt
graumeliertes Haar, ist rank und schlank, Mitte vierzig bis Anfang fünfzig und
spricht mit einem breiten kölschen Akzent. Er ist in Saint-Jean-Pied-de-Port
losgelaufen und wollte innerhalb von zwei Wochen in Santiago de Compostela
ankommen. Nein, er ist kein Extremwanderer. Eigentlich hatte er sich
vorgenommen, einige Etappen mit dem Bus zu überbrücken. Allerdings konnte er
sich dem Sog, der Faszination des Camino nicht entziehen und einfach in einen
Bus steigen. Und so läuft er dieses Jahr nur bis Burgos. Den Rest will er im
kommenden Jahr meistern. Auch wenn ich erst zwei Tage unterwegs bin, kann ich
Wolfgangs Sinneswandel nur zu gut nachvollziehen. Könnte ich mich morgen in
einen Bus setzen, meine gerade gewonnenen Pilgerfreunde zurücklassen, um in
Villafranca Montes de Oca oder Burgos eine neue Reise zu beginnen? Wohl kaum.
Für mich stand schon vor Reiseantritt fest: Ein fahrbarer Untersatz kommt für
mich überhaupt nicht in Frage. Entweder ich laufe mit meinen eigenen zwei
Beinen nach Santiago, oder ich breche komplett ab.
Etappe 2: Nájera —
Santo Domingo de la Calzada (20,6 km)
Dienstag, 1. September 2009
Früher, so etwa im Mittelalter,
zerbrachen sich Baumeister vor der Errichtung eines Gebäudes die Köpfe, um
etwaige Fehler im Vorfeld
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