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Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Titel: Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maori Kunigo
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gezogen. Und dann dürfen wir geschundene Pilger da durchdackeln, vielen Dank.
Die modisch karierten Bodenplatten sind der blanke Horror, und ich merke, dass
ich Meter für Meter abbaue. Durch den Ausrutscher beim Stockbruch scheine ich
mir meinen linken Fuß verdreht zu haben; das Fußgelenk schmerzt höllisch. Dabei
waren die Gelenke bis heute Morgen noch meine letzten Trumpfkarten. Da ich
inzwischen dermaßen unregelmäßig laufe und meine Geschwindigkeit keine zwei
Minuten konstant halte, kann Marcos überhaupt nicht mit mir gemeinsam nach
Cacabelos laufen, auch wenn er wollte. So verbringt er die letzten fünf
Kilometer damit, permanent auf mich zu warten. Sicher denkt er, ich würde gleich
tot umfallen, um zwei Minuten später von einem hässlichen Neubau überbaut zu
werden. Als aktueller Mitpilger und zukünftiger Stararchitekt kann er das
natürlich nicht zulassen. Einmal mehr erreiche ich hinkend das Etappenziel,
diesmal Cacabelos.
    Als wir uns bereits im Dorf
befinden, holt uns Chris ein. Sie hat sich in Ponferrada völlig verlaufen und
wahrscheinlich einmal mehr die Vierzig-Kilometer-Marke überschritten. Trotzdem
macht sie einen zehnmal fitteren Eindruck als ich; wie deprimierend. Gemeinsam
durchqueren wir das gesamte Dorf. Wieso eigentlich das gesamte Dorf? Nun ja, im
Gegensatz zur albergue in Hontanas befindet sich die von Cacabelos hinter dem
Ort. Um genauer zu sein, hinter einer Brücke hinter dem Ort. Während Chris und
Marcos fröhlich plaudernd vorangehen, krieche ich wie ein Opfer hinterher. Als
ich allerdings die Herberge erblicke, bessert sich meine Laune schlagartig: Wie
Umkleidekabinen sind fünfunddreißig Zweibettzimmer um die Kirche Nuestra Señora
de la Quinta Angustia herum an die Kirchenmauer angebaut. Ob religiös oder
nicht, diese Herberge löst bei nahezu allen Pilgern Begeisterung aus; auch bei
mir. Weniger begeistert bin ich von meinem linken Knöchel, der dick
angeschwollen ist. Bei Schokoladenriegeln sind Knubbel ja ganz witzig, am
Fußgelenk dagegen echt scheiße. Jetzt habe ich eine halbe Tube Voltarén
aufgetragen. Wie gut, dass ich die spanische Packungsbeilage nicht verstehe.
Offensichtlich habe meinem Körper mal wieder zu viel zugemutet. Während meine
konditionelle Verfassung noch nie so gut war wie heute, sind meine Gelenke
ziemlich ramponiert. Der camino walk als Dauerzustand sozusagen.
    Immerhin gibt es neben der
Herberge eine weitere schöne Nachricht: Höchstwahrscheinlich haben wir den
Denker abgehängt. Nur Marcos hat ihn heute gesehen, und die Begegnung scheint
äußerst merkwürdig verlaufen zu sein. Unterwegs nach Molinaseca will mein
Pilgergefährte eine Rast einlegen. Da er jedoch sieht wie der Denker wenige
Meter vor ihm gerade seine Pause beendet wartet er einige Minuten ab, um
jegliche Kontaktaufnahme zu vermeiden. Nachdem Simon weiterwandert, lässt sich
Marcos endlich nieder und genießt die Sonne. Nach einer Weile rafft auch er
sich auf und setzt seinen Abstieg fort. Plötzlich vernimmt er Atemgeräusche
hinter ihm. Er dreht sich um, und im nächsten Moment rennt Simon an ihm vorbei
Richtung Tal. Von hinten! Dabei habe er ihn definitiv nicht überholt,
versichert Marcos uns. Willkommen in der unerklärlichen Welt des Denkers. Woher
kam Simon? Wieso ist er gerannt? Und überhaupt: Wer ist Simon?
     
    Auf dem Hof sitzt wieder die
zierliche junge Dame, die ich bereits aus der Herberge von Burgos und dem Café
vor der Kathedrale von León kenne. Und von wegen Französin, sie heißt Ewelina,
wird von den anderen Pilgern der Einfachheit halber Evelyn genannt, ist
vierundzwanzig Jahre jung und kommt aus dem wunderschönen Polen. Obwohl ich
noch nie dort war, zählt Polen zu meinen Lieblingsländern. Vor der Fußball-WM
2006 in Deutschland nahm ich bei einem Gewinnspiel von McDonald’s teil und gewann
prompt ein Hundert-Euro-Ticket für das völlig bedeutungslose Spiel Polen gegen
Costa Rica. In kompletter Japan- und Schalke-Montur fuhr ich allein nach
Hannover, lernte jede Menge merkwürdiger Menschen kennen und saß mitten im
Polen-Fanblock neben einem jungen Kerl, der mir permanent die polnischen
Sprechchöre übersetzte: »Jetzt fordern sie die Entlassung des Trainers. Und
jetzt beschimpfen sie den Fußballverband.« Einfach großartig. Außer dem wuseln
jede Menge Polen in meinem Bekanntenkreis herum, die ich zu fünfundneunzig
Prozent mag. Keine andere Nationalität weist eine höhere Quote auf. Ergo: Ich
werde bald mal nach Polen reisen.

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