Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
Während
jeder für sich selbst sorgt, lässt sich Simon von der spanischen Helferin bedienen,
als wäre er hier der König von Monte Irago. Aus den Augenwinkeln sehe ich Chris
an, dass sie kurz davor steht, ihn mit einem gezielten Handkantenschlag zu
erlegen.
Zum Abschied schießt die
Helferin ein paar Gruppenfotos, auf denen einer fehlt: Abe-san lässt sich vom
fantastischen Morgenpanorama zu einem kleinen Spaziergang verführen. Schön für
ihn, schade um die Fotos.
Der steile Abstieg folgt über
ungesicherte Schotterwege und geht ordentlich auf die Knie. Da ich mich bereits
mit einigen Blessuren abplage, bewege ich mich vorsorglich nur extrem behutsam
vorwärts. Lieber spät und heil ankommen als schnell und kaputt. Auch Gill ist
nach den vergangenen Tagen ziemlich im Eimer und bildet mit mir das
schleichende Duo. Etwa anderthalb Stunden nach unserem Aufbruch erreichen wir
das idyllisch gelegene Bergdorf El Acebo. Leben könnte ich hier nicht, die
Langeweile würde mich darnieder raffen, aber für ein paar Tage Urlaub könnte
ich mich durchaus begeistern. Bevor ich mich mit dem Gedanken anfreunde, gehe ich
lieber weiter.
Wenige Minuten später geschieht
etwas ziemlich Unheimliches. Kurz hinter El Acebo kämpfen Gill und ich mit dem
immer steiler werdenden, felsigen Abstieg. Rechts von mir der Berg, links von
mir der Abhang. Wie ein Slalomläufer stütze ich mich immer wieder auf meinen
Wanderstöcken ab, um meine Gelenke zu schonen. Plötzlich ein Knacks, der linke
Stock rutscht mir ruckartig weg, und ich schnelle mit meinem linken Fuß an die
Kante des Abhangs heraus, um mich zu halten. Kieselsteine rieseln in die Tiefe.
Erschrocken trete ich erst einmal vom Abhang weg und drehe mich zu Gill um, die
mich nur mit großen Augen ansieht. Mein linker Stock ist durchgebrochen. Der
Billigstock Meru Trekker CX-4 von Globetrotter ist durchgebrochen! Um ein Haar
wäre ich zig Meter in die Tiefe gestürzt. So schnell kann es also vorbei sein.
Ich beschließe, erst einmal konzentriert nach Riego de Ambrós zu kommen und
meine Wut über Globetrotter später rauszulassen. Dabei fällt mir ein, dass ich
erst gestern in mein Tagebuch geschrieben habe: »Die Billigstöcke (...) gehen
mir langsam auf die Eier. Erst klemmt eines der Gewinde, dann sind die
Schutzkappen nach zwei Wochen durch. Ich hoffe, die brechen mir nicht irgendwo
auf einem Felsvorsprung.« Genauso ist es jetzt gekommen, und ich frage mich, ob
mir mein Unterbewusstsein soeben den Arsch gerettet hat.
In Riego de Ambrós, einer
langgezogenen Kopie von El Acebo, legen wir eine kurze Pause ein. Danach geht
es richtig steil ab, ich frage mich, wie es die ganzen siebzigjährigen Pilger
heil ins schaffen. Das ist hier kein Wanderweg, nein, stattdessen ragen einfach
nackte Felsschichten aus dem Boden. Wäre mir der Stock hier gebrochen, ich wäre
bis nach Molinaseca ins Tal geschlittert.
Daher tasten Gill und ich uns
extrem vorsichtig hinunter, bis wir an der Kapelle des Santuario de la Virgen
de las Angustias am Ortseingang von Molinaseca vorbeikommen. Während Gill kurz
ins Innere des Gotteshauses verschwindet, läuft ein Pilgerpaar an mir vorbei,
das die gleichen Rucksäcke trägt wie ich. Ich spreche die beiden an und
erfahre, dass sie genau wie ich aus Hamburg kommen. Drei Hamburger, drei
GoLite-Rucksäcke, drei glückliche Rücken. Wir verabschieden uns, und sie ziehen
weiter.
Gill und ich biegen Richtung
Dorf ab. Nach der herrlichen Stille in Manjarín haut uns der Radau hier beinahe
um. Überall rennen Touristen und Ausflügler herum. Mittlerweile hat die
Außentemperatur wieder um die dreißig Grad erreicht, wir haben sechzehneinhalb
Kilometer Abstieg hinter uns; kein Wunder, dass wir ziemlich geschlaucht sind.
An einem Getränkeautomaten ziehen wir uns pures Zuckerwasser. Dabei sind wir im
normalen Leben überhaupt keine Cola-Trinker. Und das geht den meisten Pilgern
so: Zu Hause würden sie eine Cola-Dose nicht einmal mit dem kleinen Zeh
berühren, aber hier auf dem Camino saufen sie das Zeug wie die Irren. Vor einem
Haus entdecken wir einen winzigen Holztisch und zwei klapprige Stühle, perfekt
für unsere kleine Pause. So fläzen wir uns vor einem Privathaus auf die Stühle
und beobachten die Pilger. Mit Gill verstehe ich mich mindestens genauso
blendend wie mit Marcos, wobei sie wesentlich redseliger ist als er. Anders als
er gehört die Kanadierin zu den Menschen, die einfach drauflos palavern können.
Und was sie zu sagen hat, empfinde ich als
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