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Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Titel: Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maori Kunigo
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ablegen.
     
    Um Punkt neunzehn Uhr dreißig
wird eine Glocke geläutet, und Tomás und seine Helfer halten ein Templerritual
ab. Ich nehme nicht teil, und ich schaue auch nicht zu. Ehrlich gesagt weiß ich
nicht, was ich von Ritualen mit lateinischem Gesang, spanischen Gebeten und
antiken Schwertern inmitten einer Welt voller Telekommunikation und Maschinen
halten soll. Die Ideen des Templerordens entstanden in einer längst vergangenen
Epoche, einer Zeit, in der sich Christen und Moslems gegenseitig massakrierten
und nichts Falsches daran fanden. Okay, das klingt eigentlich nach George W.
Bush und Saddam Hussein, aber die beiden würde ich nicht unbedingt als die
Mustervertreter der heutigen Zeit in die Verantwortung nehmen. Auch nicht als
Mustervertreter ihrer Religionen. Jedenfalls folgt dem Ritual etwas, das völlig
konfessionslos funktioniert: das Abendessen. Uns Pilgern serviert die äußerst
nette Helferin Nudeln mit einer Gemüsesoße sowie frischen Salat und Brot. Tomás
isst ausschließlich seinen eigenen Salat und zeigt sich nicht besonders
redselig. Während seine Arbeit für uns ein Highlight unseres Weges ist, sind
wir für ihn schlicht Alltag. Seit Jahren sieht er Pilger kommen und gehen,
einer gleicher als der andere, die nur selten etwas Besonderes zu erzählen
haben. Ich beschließe einfach, ihm im Stillen dankbar zu sein, und irgendwie
vertraue ich seiner Menschenkenntnis, dass es ihm nicht verborgen bleibt. Von
Marcos lässt er sich immerhin entlocken, dass er im Winter bereits häufiger
eingeschneit wurde; zuletzt fünf Tage am Stück. Daher bunkert er haltbare
Nahrungsmittel wie eingelegte Tomaten oder Würste und Schinken, die von der
Decke hängen. Zudem liest er regelmäßig Zeitungen und erfreut sich seit kurzer
Zeit eines Internetzugangs. Schwerter hin, Rituale her, Tomás scheint
offensichtlich sehr gern mit der Zeit zu gehen.
    Es ist bereits stockdunkel, als
wir nach dem Essen noch ein wenig an der frischen Luft sitzen und die Stille
genießen. Mir fällt auf, dass Simon in kurzer Hose und T-Shirt auf der Bank
sitzt und zittert.
    »Das ist schon kalt hier«, sagt
er. Obwohl er mich ansieht, spricht er mehr zu sich selbst. Ein bisschen
unheimlich, aber das ist eben Simon. »Gestern in der Herberge war es auch so
kalt, ich wär’ fast erfroren.«
    Irgendwie kann ich mir das
Elend nicht mehr mit ansehen, also frage ich ihn: »Wieso hast du dir denn
nichts übergezogen? Und wieso sitzt du hier im T-Shirt in der Kälte rum?«
    Schon folgt der nächste
Knaller. Sich die Oberarme reibend, antwortet er: »Ich hab’ mein Sweatshirt in
León verloren.«
    Als ob das nicht schon dumm
genug wäre, sitzt er hier stumpf in der Kälte herum und friert sich den Arsch
ab, anstatt sich nach oben unters Dach zu verkriechen. Wieso tut er das? Wieso
sitzt er hier neben mir, zittert wie Espenlaub, und erläutert mir detailliert,
wie sein Denkerhirn von einem enttäuschenden Resultat zum nächsten holpert? Ich
seufze hörbar und taste mich in die Dunkelheit. Lieber breche ich mir den Hals
bei einer totalen Nachtwanderung als weiterhin diesem kognitiven Brachland
beizuwohnen. Im Übrigen spekulieren Marcos und ich, was sich in seinem
ausgebeulten Rucksack befinden könnte. Keine lange Hose, kein Sweatshirt, kein
Schlafsack. Es kann sich nur um einen abgetrennten Kopf handeln.
     
    Etappe 14: Astorga — Manjarín
(30,7 km)

Sonntag, 13. September 2009
     
    Ich bin zu Hause bei meinen
Eltern. Dass ich es nicht bis nach Santiago geschafft habe, ist für mich eine
Riesenenttäuschung. Was mache ich hier eigentlich? Wieso
habe ich abgebrochen? Oh, ich fühle mich elendig. Und wache auf.
    Dachgeschoss? Es ist hell,
zumindest das. Ach ja, richtig, ich bin in Manjarín. Diese Erleichterung, so
winzig und doch so herrlich. Ich rolle mich auf die andere Seite und zucke
zusammen. Neben mir liegt des Denkers rumorender Körper. Ich drehe mich wieder
weg.
    Gestern, als um ziemlich genau
zweiundzwanzig Uhr das Licht ausgeknipst wurde, fragte ich mich, wie um alles
in der Welt ich neun Stunden durchschlafen könnte. Denn verlassen wird das refugio frühestens um sieben, so sind die Hausregeln. Wie ich mitbekomme, haben
ausnahmslos alle sechs anwesenden Pilger so tief und fest geschlafen wie nie
zuvor auf dem Camino. Mir geht es blendend, trotz des merkwürdigen Traumes. Zum
Frühstück wird uns eine ungewöhnliche Kombination kredenzt: Kekse, Butter,
Marmelade, diverse Brotaufstriche, Müsli und eine riesige Kanne Kaffee.

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