Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
ganze
Stunde lang denke ich, der blöde Ferienkomplex müsse hinter der nächsten Ecke
auftauchen. Stattdessen sieht man nach einer geraden, mit einem lichten Wald
flankierten Straße grundsätzlich eine weitere gerade, mit einem lichten Wald
flankierte Straße. Danach noch eine. Und noch eine. »Monte do Gozo gibt’s doch
gar nicht«, vermuten wir. »Wurde bestimmt abgerissen.«
Kurz nach fünfzehn Uhr
erreichen wir eine Kreuzung mit dem allerersten Hinweis auf die Existenz
unseres Etappenziels: ein Pfeil mit dem Schriftzug »Monte do Gozo«. Endlich,
denken wir. Aber zu früh gefreut. Als wir um die Ecke blicken, brechen wir in
Gelächter aus. Nicht anders ergeht es den zwei Pilgerinnen, die vor uns laufen.
Der Pfeil zeigt in eine weitere ewig lange, schnurgerade Straße — und weit und
breit keine Ferienanlage in Sicht. Das sind solche Momente, in denen sich sogar
Atheisten einen Gott wünschen, um wenigstens ein Stoßgebet gen Himmel schicken
zu können. Nach einem kräftezehrenden Marsch wartetet am Ende der Straße das
Dorf San Marcos, zu dem Monte do Gozo gehört. Selbstverständlich müssen wir es
fast vollständig durchqueren, bevor wir endlich vor der Einfahrt zum
Ferienkomplex stehen. Vom Monte do Gozo, dem Berg der Freude, kann man zum
ersten Mal die Kathedrale von Santiago de Compostela sehen. Im Mittelalter
lagen sich die Pilger an dieser Stelle weinend in den Armen. Heute motiviert
uns ein urhässliches Denkmal, das zur Erinnerung an den Papstbesuch Johannes
Pauls II. errichtet wurde, es ihnen gleichzutun.
An der Kapelle treffen wir den
jungen Bielefelder Adam wieder. Den habe ich nur ein einziges Mal in Sahagún
gesehen. Er läuft gemeinsam mit zwei Japanern, von denen ich einen in Sarria
gegrüßt habe. Soso, zwei japanische Sarria-Pilger, das haben wir ja gerne. Aber
die beiden sind ganz putzig, und als ich ihnen erzähle, ich sei in
Gelsenkirchen geboren worden und nicht in Japan, versuchen sie größtenteils auf
Englisch mit mir zu reden. Als seien Gelsenkirchener für überdurchschnittliche
Englischkenntnisse bekannt; ich verstehe erst recht kein Wort. Gemeinsam mit
einem braungebrannten Schönling namens Miguel wollen sie es heute nach Santiago
schaffen. Für uns dagegen geht es erst einmal einige Meter hinunter zur Anlage,
vorbei an dem unfassbar hässlichen Denkmal. Tut mir leid, aber mich erinnert
das unförmige Ding an Pseudomoderne DDR-Denkmäler aus den verzweifelten
achtziger Jahren.
Die Anlage ist genauso hässlich
wie wir sie uns vorgestellt haben, aber nach einem solchen Tag fühlen wir uns
wie im Paradies. Der gigantische Herbergskomplex wurde 1993 anlässlich des
Heiligen Jahres erbaut und bietet Platz für mindestens fünfhundert bis — so munkelt
man — maximal zweitausend Pilger. Heute sind höchstens sechzig Pilger hier; wir
haben mit weitaus mehr gerechnet. Ich bin richtig im Eimer, und Chris und
Marcos geht es nicht viel besser. Noch vor der obligatorischen Dusche gönnen
wir uns kaltes Bier und ebenso kalte Hamburger beziehungsweise Sandwiches — herrlich!
Auch Philipp, der Österreicher aus Triacastela, und sein deutscher Mitpilger
Achim haben sich in der Imbissbar eingefunden Ich nenne diesen Laden mal so,
denn ich kenne einfach kein Lokal dieser Art. Im Grunde sieht es aus wie in
einer Mensa, es werden Getränke und Snacks angeboten, in der Ecke hängt ein
Fernsehgerät, Mitten im Raum steht ein Internetrechner. An einem Tisch entdecke
ich eine Familie, die wir kurz nach dem Marktschreier-Pfarrer in Boente
getroffen haben. Ansonsten sind wir von lauter unbekannten Gesichtern umgeben.
Meinetwegen, heute ist mir so gut wie alles wurscht. Evelyn erzählte uns heute
Morgen, dass sie in einer kleinen polnischen Herberge im Dorf übernachten
wolle. Ich finde es ein wenig schade, dass wir den letzten Abend vor Santiago
nicht gemeinsam verbringen, denn mittlerweile verstehen wir uns prima. Evelyn
kommt aus einer konservativen, gläubigen Familie und geht soweit möglich die
Originalroute. Beispielsweise hat sie aus diesem Grund auf den camino duro verzichtet und sich durch das Tal an der Nationalstraße entlang gequält. Wenn
man sie fragt, weshalb sie den Camino gehe, erfährt man recht schnell, wie gläubig
sie ist. Anders als Lory drängt sie ihren Glauben nicht in jedes Gespräch
hinein, sondern behandelt es als das, was es ist: reine Privatsache. Auf dem
Camino kommuniziert sie überwiegend auf Englisch, das sie sich selbst
beigebracht hat. Sie hat einen wahnsinnig
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