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Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Titel: Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maori Kunigo
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Spanierinnen, die in diesem
versifften Kaff völlig deplatziert wirken. Wir quetschen uns in eine Ecke, wo
noch ein freier Tisch steht, und strecken die Beine aus. Die Bar ist voller
Menschen, überall wuseln sie herum, der Boden ist mit Rucksäcken und sonstigen
Pilgerutensilien bedeckt. Pilger, die nicht zum Sarria-Express gehören, erkenne
ich mittlerweile auf hundert Meter. Die Kleidung wirkt verwaschener, die
Rucksäcke nicht mehr ganz so fabrikneu, die Männer lassen ihrer
Gesichtsbehaarung mehr Freiraum, die Frisuren sind nicht mehr so akkurat, und
sie fluchen über die Sarria-Pilger. Allein schon wenn ich diesen Herrn dort in
der roten Jacke sehe, mit grauem Bart, etwa sechzig Jahre alt, der sich einen
Kaffee bestellen will und hinter vier schnatternden Sarria-Pilgern festhängt.
Der tut mir gerade richtig leid. Ein junger Pilger eilt ihm zu Hilfe, ein Baum
von einem Mann, mindestens eins neunzig groß, etwa dreißig Jahre. Wie ein Kran
beugt er sich durch die Vierergruppe durch, die sich versucht zu empören,
allerdings die muskelbepackten Oberarme ded jungen peregrino registriert
und schweigt. Ach, die können also doch die Fresse halten, welch angenehme
Überraschung. Zwei Kaffeetassen wandern über die Theke, der junge Mann reicht
dem nun glücklich wirkenden älteren Mitpilger eine davon, und die beiden
verlassen das Lokal, um den Kaffee vor der Bar zu trinken. Man hat das Gefühl,
hier wandern zwei unterschiedliche Herden zufällig in dieselbe Richtung, nicht
gemeinsam, lediglich parallel.
    Als wir um zwanzig nach neun
die Bar verlassen, flitzt Evelyn an uns vorbei, als sei heute ihr erster
Wandertag. Wenige Minuten später beginnt es zu nieseln. Da heute mein letzter
regulärer Wandertag ist, gebe ich alles, um den Tag zu genießen. Ich versuche,
mit jeder Pore meines Körpers die Atmosphäre des Camino in mich aufzunehmen.
Obwohl ich ganz genau weiß, dass es völlig unmöglich ist, versuche ich mir
sämtliche Belanglosigkeiten einzuprägen, als wäre jede von ihnen eine
Attraktion. Die nächsten Kilometer bilden den galicischen Querschnitt ab:
Landstraßen, Feldwege, die Nationalstraße N-547 und Waldwege wechseln sich ab.
So langsam haben auch die Sarria-Pilger mit ersten Beschwerden zu kämpfen, was
sich positiv auf ihr Gesamtverhalten auswirkt. Zumindest bei ungefähr der
Hälfte von ihnen. Wie dem auch sei, ich frage mich, wieso ich jedes Mal
ausschließlich leide, obwohl mir klar ist, dass Leiden auch Lernen heißt. Wieso
nimmt mir diese Erkenntnis nicht wenigstens zehn Prozent Leid ab? Kaum denke
ich darüber nach, beginnt es kurz vor O Pedrouzo, etwa fünfzehn Kilometer vor
unserem heutigen Etappenziel, wie aus Kübeln zu Schütten. Plötzlich
verschwinden die ganzen Sarria-Pilger von der Straße. Wie weggespült. Am Ortsausgang
von O Pedrouzo setzen Chris, Marcos und ich uns in eine kleine Bar und wärmen
uns auf. Ich verspüre ein wahnsinniges Verlangen nach Cola und Saft der Orange,
also bestelle ich beides und friere weiter vor mich hin. Chris macht es etwas
geschickter und schlürft eine chocolate caliente. Um kurz nach halb eins
machen wir uns auf die letzten zwanzig Kilometer des Camino Francés. Allmählich
lässt der Regen nach, und ich bin froh, dass sich bisher kein einziger Tropfen
in meine Schuhe verirrt hat. Dabei habe ich vergessen, sie vor der Abreise zu
imprägnieren.
    Als wäre der Tag bisher nicht
schon beschissen genug verlaufen, wechselt das Wetter ab sofort praktisch im
Fünfzehnminutentakt, und schon weiß der Körper nicht mehr, ob er schwitzen oder
frieren soll. Zudem schmerzt mein rechtes Schienbein, als schlüge jemand
Schritt für Schritt mit einem Hammer darauf. Die zahlreichen Asphaltpassagen
sowie das permanente Auf und Ab am heutigen Tag scheinen ihren Tribut zu
fordern. Zu allem Überfluss haben sich auf sämtlichen Waldwegen riesige Pfützen
gebildet, so dass an eine regelmäßige Schrittfrequenz gar nicht zu denken ist.
Dabei wäre es essentiell, die heutige Etappe mit ihren fünfunddreißig
Kilometern gleichmäßig abzuschreiten, je häufiger der Laufrhythmus unterbrochen
wird, desto größer ist am Ende die Erschöpfung. Heute Morgen waren es die
Sarria-Pilger, die sich uns in den Weg stellten, jetzt ist es die Galicische
Seenplatte.
    Nach einer halben Stunde
durchqueren wir das an der N-547 gelegene, winzige Dörfchen Amenal und gelangen
in das letzte Waldgebiet vor dem Flughafen von A Lavacolla, der aus
kommerziellen Gründen offiziell »Aeropuerto de

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