Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
süßen polnischen Akzent und
verwechselt ab und an ähnlich klingende Wörter, was zu hochgenialen
Missverständnissen führen kann. Sie ist ein Mensch, den man gern in der Nähe
hat. Wahrscheinlich sehen wir sie erst morgen in Santiago wieder. Plötzlich
registriere ich, dass wir tatsächlich vor den Toren Santiagos stehen. Wir sind
fast da. Wirklich realisieren kann ich es noch nicht, dafür ging alles viel zu
schnell, war alles viel zu kräftezehrend. War das wirklich ich, der vor drei
Wochen blass wie Mürbeteig im fernen Logroño losgelaufen ist? War das wirklich
ich, der sich völlig ausgelaugt über die Römerstrecke nach Calzadilla de la
Cueza geschleppt hat, um das erste Mal dem Denker zu begegnen? War das wirklich
ich, der beim Abstieg von den Montes de León beinahe den Abflug gemacht hätte?
Unglaublich. Natürlich, paranormale Phänomene haben mich gemieden wie der
Teufel das Weihwasser, aber worüber beschwere ich mich eigentlich? Unzählige
Pilger kommen erst gar nicht in Santiago an. Eine Norwegerin, der ich zu Beginn
meines Camino ab und an begegnet bin, musste nach einem schweren Sturz wegen
eines Knochenbruchs abbrechen. Drei der vier Mädels, die immer um sechs Uhr
alle Pilger aus den Betten geholt haben, mussten aus mir unbekannten Gründen
ebenfalls vorzeitig die Segel streichen. Obwohl ich reichlich ramponiert wirke,
hatte ich den gesamten Weg über viel Glück. Keine einzige Bettwanze hat mich
angerührt. Von Hunden wurde ich ebenfalls weitestgehend verschont. Mein an sich
recht schwacher Magen hat mir nicht ein einziges Mal Probleme bereitet. Ich
konnte jeden Tag wandern und habe sämtliche Etappenziele, die ich mir jeweils
vorgenommen hatte, erreicht. Eigentlich brauche ich keine großen Wunder. In der
Summe bedeuten mir die unzähligen kleinen wesentlich mehr.
In jedem Schlafraum stehen vier
Metallstockbetten. Unser Raum ist vollständig belegt. Drei Schlafplätze gehören
Chris, Marcos und mir. Zwei einem deutschen Mutter-Tochter-Gespann. Für die
Frau ist es der zweite Anlauf; letztes Jahr hat sie sich beim Abstieg von den
Pyrenäen die Kniescheibe angebrochen. Dieses Jahr wollte die Tochter spontan
mitkommen, und so laufen sie diszipliniert als Zweiergespann zwischen zehn und
zwanzig Kilometer am Tag. Zwei weitere Schlafplätze werden von einem alten Ehepaar
belegt, der letzte gehört einem jungen spanischen Fahrradpilger. Ich hätte nie
gedacht, dass ich eines Tages mal acht Schlafplätze auf achtzehn Quadratmetern
als angenehm bezeichnen würde; León macht’s möglich.
Nachdem wir (heiß!) geduscht
haben, laufen wir hinunter zum zentralen Platz der Anlage, wo ein Pilgerdenkmal
in der Witterung verrottet. Dort befinden sich Souvenirshop, Imbissbar und
SB-Restaurant. Ich überlege kurz, ob ich mir im Souvenirshop ein T-Shirt kaufen
soll, verwerfe den Gedanken aber, schließlich geht es morgen in die Shoppinghochburg für Camino-Souvenirs.
Um halb neun betreten wir das
Restaurant der Ferienanlage. Und wer sitzt da vor uns mit einem großen
Unbekannten an einem Tisch? Evelyn!
»Was machst du denn hier?«,
frage ich sie. »Wolltest du nicht in einer polnischen Herberge übernachten?«
Sie lacht. »Ja, das tue ich
auch. Aber die wurde von einer koreanischen Pilgergruppe besetzt. Die sind
laut, schreien... Und Essen gibt’s da auch leider nicht. Also essen wir hier,
und wenn sich die Koreaner beruhigt haben, gehen wir zurück.«
Ein guter Plan. Für acht Euro
fünfzig darf man sich Vorspeise, Hauptgericht, Nachtisch und eine
Halbliterflasche Wasser genehmigen. Chris freut sich wie Bolle, dass es endlich
mal etwas anderes gibt außer Schwein, und wählt den panierten Fisch. Dazu
gibt’s richtige Kartoffeln, keine patatas fritas. So einfach kann man
unsere Pilgerrakete glücklich machen. Mein Essen dagegen reißt mich kaum vom
Hocker, es macht satt, und das reicht dann auch. Für die abendfüllende
Unterhaltung sorgt Marcos. Als er nämlich den ersten Löffel seines Joghurts in
den Mund steckt, entgleiten ihm sämtliche Gesichtszüge. Natürlich verstehen
Chris und ich zunächst einmal überhaupt nichts, besonders, als Marcos beginnt
wie ein Irrer herumzufluchen.
»Was ist los, Marcos?«, wollen
wir wissen.
»Das ist Naturjoghurt«,
antwortet er fassungslos und deutet mit dem Löffel auf den Joghurtbecher.
Darauf prangen dicke, rote Erdbeeren. Es steht »yogur de fresa«, Erdbeerjoghurt, drauf. »Hier, Erdbeeren. Die haben Naturjoghurt in
Erdbeerjoghurtbecher gefüllt. Ich
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