Vom Schlafen und Verschwinden
wohlsten fühlten. Ich fühle mich im Tenor am wohlsten, sagte aber Alt. Ellen hat einen klaren, wenn auch ungeübten Sopran. Er klingt kompakt, hat Glanz, aber nicht weitschweifig, nicht sonnengleich, sondern wie ein einzelner gebündelter Lichtstrahl. Joachims Tenor ist immer noch gut, lyrisch, beweglich, vielleicht ein wenig brüchig in der Höhe. Andreas ist ein tiefer Bass. Seine Stimme hat Wärme, aber er singt nur sehr verhalten. Benno singt wahrscheinlich am besten von uns, auch ein Tenor, schlank, beweglich, sicher.
Orla ist die Überraschung, sie hat eine tiefe Altstimme. Unerwartet voll und weiblich für eine Siebzehnjährige, reich an Obertönen und einem Vibrato, das gänzlich unbewusst in ihrer Stimme schwingt. Joachim Feld ließ sie vorsingen, schien erst erstaunt, dann gerührt:
»Aber alle Felds haben hohe Stimmen!«
Orla: »Ich nicht, wie es scheint. Können wir jetzt weitermachen, Opa?«
Nun konnte ich das Timbre auch in ihrer Sprechstimme hören.
Ellen runzelte die Stirn, beugte sich über ihre Tasche und tat, als suche sie etwas darin. An ihren angestrengt vorgebeugten Schultern und den spitzen Winkeln ihrer Ellbogen konnte ich erkennen, wie stolz sie auf Orla war und wie sehr sie sich bemühte, es nicht zu zeigen. Ich wandte meinen Blick ab und sah noch etwas anderes: Beide Männer, Andreas und Benno, schauten auf Ellen. Sieh an.
Aber ich bin schließlich auch nicht wegen John Dowland hier, sondern wegen Ellen Feld.
Benno ist kurze Zeit mein Patient gewesen. Ich habe in Grund eine Schlafschule geleitet und war ein paar Tage die Woche im Schlaflabor des Städtischen Klinikums. Ich mag das Wort Schlafschule, es birgt die Gewissheit, dass jedermann mit etwas Fleiß und Ausdauer das Schlafen erlernen kann. Und wahrhaftig, die meisten Schüler merken beim Verfassen ihrer Schlafprotokolle, dass sie viel besser schlafen, als sie gedacht oder gefühlt haben. Diese Erkenntnis entspannt sie meist so sehr, dass viele Schlafprobleme aus dem Weg geschafft sind, noch bevor ich mich ihrer gezielt annehmen kann. Natürlich zeige ich ihnen, was autogenes Training ist oder wie progressive Muskelentspannung geht, doch oft reicht es schon, ihnen klarzumachen, dass es ganz normal ist, mehrmals in der Nacht aufzuwachen. Die Schlafhygiene mancher Leute ist erschreckend, ein ausgedehntes Nickerchen nach dem Essen oder womöglich eines nach der Arbeit, danach wieder Kaffee, überhitzte Schlafzimmer, Fernseher vor dem Bett – viele haben schon ein Viertel ihres Schlafsolls verplempert, noch bevor sie das Licht ausgeknipst haben. Das Absolvieren der Schlafschule hat auf 70 Prozent meiner Patienten die gleiche Wirkung wie die Einnahme eines leichten bis mittelschweren Schlafmittels. Und abgesehen von den Gebühren hat es keine unangenehmen Nebenwirkungen. Mit den übrigen 30 Prozent muss ich mich dann später einzeln beschäftigen.
Benno war ein Schlafwandler. Er schlief wunderbar, nur eben nicht immer in seinem Bett. Schlafwandeln ist nur eine milde Störung, eine Tiefschlaf-Parasomnie, bei der die motorischen Zentren des Gehirns nicht ausreichend deaktiviert werden. Aber Schlafwandeln geht meist von allein wieder vorüber, und das einzig Gefährliche daran ist das Verletzungsrisiko. Benno schämte sich für sein Schlafwandeln. Es war offensichtlich, dass er mir nicht alles erzählte, waser nachts anstellte. Er fragte nur, ob Schlafwandeln auch mit nächtlichem Sprechen »oder Ähnlichem« einhergehen könne. Ich sagte ihm, dass dies zwei unterschiedliche Störungen seien, die aber auch zusammen auftreten könnten. Er nickte. Die Antwort schien ihn nicht zu beruhigen. Ich fragte ihn, ob er gesund lebe und gut abschalten könne, und da lachte er laut und sagte, er sei ein zergrübelter Historiker, sein Atemsystem habe sich aufgrund der Archivluft, in der er sich aufhalte, längst auf Staublungenatmung umgestellt, er habe ein Doktorandenstipendium und stehe daher unter Leistungsdruck, könne zudem einen halbtoten Doktorvater vorweisen, leide unter Geldmangel und verspüre deutlich das Nahen seines Abgabetermins, aber klar, abschalten, da hätte er ruhig früher drauf kommen sollen.
Ich fand ihn ein bisschen zu frech für sein Alter, das ich in der Akte gelesen hatte, gerade einunddreißig, und empfahl ihm so herablassend, wie es mir möglich war, doch vielleicht mal ein wenig Sport zu treiben oder sich ein Hobby zuzulegen. Ich beglückwünschte mich innerlich zu dem Wort »Hobby«. Es zeitigte auch sofort seine
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