Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
Vom Netzwerk:
Wirkung. Er nickte kurz, stand auf und ging, begleitet von meinem Rat, überall in der Wohnung Licht brennen zu lassen, damit er sich nicht verletze.
    Und dann traf ich ihn in Joachims Chor wieder.
    Er erschrak, als er mich sah. In seinem Gesicht war zu lesen, dass er es erwog, sofort wieder zu gehen. Kurz bevor die Probe anfing, gab er sich einen Ruck und kam zu mir herüber. Er sagte, er sei hier, weil man ihm geraten habe, sich ein Hobby zuzulegen. Dabei lächelte er ein wenig selbst-ironisch und ein wenig vorwurfsvoll, aber auf eine gewisse Weise auch begeistert. Ich musste lachen. Nicht schon wieder, dachte ich, nicht schon wieder so ein Baby.
    Erst viel später gab er zu, dass er auf das Inserat aufmerksam geworden sei, weil mein Nachname darunter gestanden habe. Er sei neugierig geworden. Als er gesehen habe, dass ich auch dabei sein würde und dass der Chorleiter nicht mein Ehemann sei, habe er sich ertappt und beflügelt zugleich gefühlt. Es sei so gewesen, erklärte er, wie das Wahrwerden eines Traumes, dessen er sich gar nicht mehr bewusst gewesen sei. Und nach einer Pause fügte er hinzu, ich bräuchte meine Augen deshalb ja nicht gleich so zu verdrehen, dass man nur noch das Weiße sehe, ein schlichtes Schielen reiche vollkommen.
    Ich sagte ihm, er solle einer Somnologin gegenüber mit Traumgeschichten lieber zurückhaltend sein. Er zuckte mit den Schultern:
    – Ihr glaubt wohl, ihr seid gegen so etwas gefeit? Träume, Schlafwandeln, überhaupt Unbewusstsein, das ist was für Schwächlinge, stimmt’s? Schlaft ihr überhaupt? Nein, ihr lasst schlafen.
    Ich lächelte zufrieden und nickte. Damals schlief ich noch.
    Der badische Markgraf machte seinen Traum selbst wahr. Er baute sich seine Sonnenstadt. Und wenn auch die Straßen eher fächerförmig verliefen und das Schloss nicht golden war, sondern nur gelb angestrichen, so nannte er die Stadt dennoch Karlsruhe, weil er damals im Wald von ihr geträumt hatte.
    Grund liegt nördlich von Karlsruhe, gewissermaßen am Ende des Fadens, an dem der Fächer hängt. Man fährt auf einer langen, schnurgeraden Straße durch den Wald, wenn man mit dem Fahrrad in die Stadt möchte. Flach ist sie, die oberrheinische Tiefebene, flacher als Hamburg mit seinen Elbhängen und Flusstälern, mit Treppen und Hügeln.
    Seit fünf Monaten leben wir nun in Hamburg. So schlimm ist es nicht. Die Stadt ist groß und voll. Eng ist es hier, und zugleich gibt es so viel Platz. Als wir im Januar herzogen, istgleich die Alster zugefroren. Mitten in der Stadt lag plötzlich eine gewaltige graue Eisödnis mit weißen Flecken verwehten Schnees darin. Selbst der Himmel erscheint größer als in Grund, vor allem nach oben hin gibt es Raum. Er erinnert mich an Dublin. Die Wolken treiben auf drei, manchmal vier Ebenen übereinander und untereinander hinweg, alles ballt und türmt sich in alle Richtungen. Dafür scheint es, als stürze die interstellare Kaltluft geradewegs aus dem All hinunter auf die Stadt. Wir haben jetzt Mai, und draußen herrscht Winter.
    Im Süden, in Grund, ist der Himmel meistens eine Fläche. Entweder blau oder grau oder weiß, Wolkendecke oder Dunstglocke. Die Sterne scheinen dort weniger Himmelskörper als einfach nur Licht zu sein, das von oben wie durch enge Öffnungen fällt, so als säßen wir wie Maikäfer in einem Schuhkarton, in dessen Deckel jemand mit einer Stricknadel Luftlöcher gestochen hat. Einmal hob Andreas auch einen toten Hirschkäfer auf, er war glänzend braun wie das Holz des alten Sekretärs, der im Wohnzimmer stand. Ich betrachtete das Geweih mit seinen Stacheln. Der Hirschkäfer erinnerte mich eher an eine Falle für Waldtiere als an ein Waldtier, ein glänzendes Tellereisen mit Beinen. Starr quollen seine schwarzen Augen links und rechts aus dem Schädel. Wir haben trotzdem Löcher in den Deckel gestanzt. Man weiß ja nie, ob sich einer nur tot stellt.
    Noch immer starren Orla und ich in der U-Bahn die Menschen an, die uns gegenübersitzen, ein sicheres Zeichen dafür, dass man vom Land kommt. Letzte Woche, es gab tatsächlich zwei heiße Tage, riss die junge Frau, die mir gegenübersaß, in einer scharfen Bewegung ihre Knie weit auseinander, der kurze Rock schob sich über ihre Schenkel, und ich sah das schmale Dreieck ihres dünnen Slipsund darunter ihr rasiertes Geschlecht. Als ich zusammenfuhr und aufsah, blickte ich ihr geradewegs in die Augen. Sie stierte mich an. Ihre Augen waren stumpf und die Unterlippe schlaff. Es dauerte eine

Weitere Kostenlose Bücher