Vom Schlafen und Verschwinden
ich ihm natürlich gleich helfen und gab ihm die Adresse eines Psychologen. Er las sie, steckte sie in die Tasche, warf mir einen verächtlichen Blick zu und ging.
An einem Nachmittag traf ich Andreas am See. Ich war zu Besuch bei meinen Eltern in Grund, es musste einer der ersten Besuche gewesen sein seit Orlas Geburt, sie war erst ein paar Monate alt. Sie lag auf dem Bauch und leckte nachdenklich den Sand von der Decke, ein Stück meiner Zeitung hatte sie abgerissen und hielt es in der Faust. Andreas zog es ihr sanft aus der Hand und stopfte es sich in die Hosentasche.
Er stand da und sagte nichts. Ich schwieg und grub meine Zehen in den Sand. Ich fühlte, dass er mir etwas mitzuteilen versuchte, sein ganzer Körper war angespannt. Ich wollteihm aber nicht helfen. Warum sollte ich? Hatte er mir geholfen letztes Jahr, als Lutz plötzlich weg war? Nein, Lutz verschwand aus Grund und Andreas in sich selbst.
Außer uns war niemand da, die Badesaison war vorbei. Es muss September gewesen sein, oder Anfang Oktober, oder vielleicht das Ende eines besonders langen Altweibersommers, Orla und ich saßen im Sand. Ich hatte Schaufeln und Eimer dabei. Aber eigentlich war sie noch zu klein dafür. Am Rand des Sandstrands wuchs Wasserminze. Ich riss mit den Fingernägeln eine Handvoll rauer Blätter ab, hielt sie mir vor das Gesicht und sog ihren scharfen Geruch ein. Kalt. Kalt floss mir der Atem durch die Luftröhre. Ich schaute an Andreas vorbei und hinaus auf den See. Die rotbraunen Stängel der Seerosen stießen von unten durch das Wasser, und ein Teil des Sees verschwand unter ihren runden Blättern.
Andreas schwieg, angestrengt, beharrlich.
Die Wasserläufer rannten zu Hunderten auf der grünen Haut des Sees, unter ihren zuckenden Füßen bildeten sich winzige Mulden, und wenn man die Augen zusammenkniff, sah es aus, als regnete es über dem See. Doch die Oberfläche platzte nicht, verschlang die Tiere nicht. Lutz hatte auch lange, dünne Beine. Er hatte sich in dem ganzen Jahr bei keinem von uns gemeldet, nicht einmal bei seinem Vater.
Ich sah Andreas kalt an. Er wich einen Schritt zurück. Orla erschrak und weinte. Ich nahm sie hoch und tat, als ob Andreas nicht da wäre. Andreas blickte auf uns herunter, es tat ihm leid, aber es war noch etwas anderes in seinem Gesicht, ein Schmerz, den ich erst wahrnahm, als ich sah, wie er auf Orla schaute. Sein Brustkorb hob und senkte sich schnell. Er drehte sich um und ging, das gelbe Postfahrrad schob er neben sich durch den Sand. Er kam nur schwer voran. Ich hörte ihn atmen.
An jenem Nachmittag sah ich zum ersten Mal einen Ochsenfrosch am See. Er kam laut raschelnd aus dem Gebüsch am Ufer und kroch auf uns zu. Ein Monster von einem Frosch, glänzend, bräunlich und furchtlos. Er starrte mich an, ich starrte zurück. Etwas begann in mir zu flattern, stieß von innen gegen meine Magenwand wie ein Insekt gegen die Scheibe. Ich schrie kurz auf, nahm eine Handvoll Sand und warf sie nach dem Frosch. Er blieb stehen, dann sprang er ohne Hast seitlich ins Schilf. Es raschelte noch eine ganze Weile, die Schilfrohre knackten und wackelten, aber ich sah ihn nicht mehr. Irgendwann hörte ich ein Klatschen, nicht sehr laut, danach nichts mehr.
6.
Donnerstag, 12. September
Joachim wird sein grünes Buch nicht vermissen. Sollte er je danach fragen, wird mir schon eine Ausrede einfallen, einfältig bin ich nicht.
Irgendetwas geschieht mit uns in diesem Chor. Es ist das Singen. Es stülpt das Innere nach außen, schließt Räume auf und fordert nicht enden wollendes Verströmen. Selbst Andreas, der Verstummte, ist auf einmal zu hören.
Ich kann mittlerweile ein gutes Dutzend Vögel an ihren Stimmen unterscheiden. Ich gehe durch die Rheinauen und beobachte sie. Ich habe ein Fernglas und das, was man vernünftiges Schuhwerk nennt. Die Vögel fliegen nicht davon, wenn ich komme. Ich bin unsichtbar, mein Haar ist grau, meine Augen sind grau, mein Gesicht ist grau, meine Zähne, meine Jacke, alles grau. Frauen meines Alters können sich unsichtbar machen, wir können fast alles. Wenn dich keiner mehr und keiner jemals wieder begehrt und du keinen mehr und keinen jemals wieder begehrst, dann bist du frei wie ein Vogel, vogelfrei, zum Töten frei, vielleicht lerne ich auf meine alten Tage noch das Fliegen. Oder das Töten.
Noch kurz vor seinem Tod scharten sich Vögel des Waldes um Orpheus und lauschten gebannt dem bestrickenden Wohllaut seines Liedes. Der Chor ist Joachims
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