Vom Wahn zur Tat
bedingten Nachsicht von vorbeugenden Maßnahmen (§ 45 StGB) in Kraft, welches bei solchen psychisch kranken Rechtsbrechern zur Anwendung kommen kann, bei denen aufgrund des Gesundheitszustands, des Vorlebens und der Art der Tat „anzunehmen ist, dass die bloße Androhung der Unterbringung in Verbindung mit einer Behandlung außerhalb der Anstalt [...] ausreichen werde, um die Gefährlichkeit, gegen die sich die vorbeugende Maßnahme richtet, hintanzuhalten“.
In Österreich kann in die vorbeugende Maßnahme eingewiesen werden, „wer, ohne zurechnungsunfähig zu sein, unter dem Einfluss seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad eine Tat begeht, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist“ (§ 21 Abs. 2 StGB) und – in Analogie zum § 21 Abs. 1 StGB – die Befürchtung einer neuerlichen Straftat mit schweren Folgen besteht. In diesem Fall wird der Täter aufgrund der vorhandenen Zurechnungsfähigkeit zu einer Haftstrafe verurteilt, parallel dazu erfolgt jedoch auch die Einweisung in die vorbeugende Maßnahme auf unbestimmte Zeit. Haftstrafe und Maßnahme werden zugleich vollzogen.
Die seit 1975 erfolgten Gesetzesänderungen führten zu weitreichenden Veränderungen der institutionellen Landschaft. Aufgrund der durch die Strafrechtsreform von 1975 entstandenen Situation wurden einzelne Justizanstalten ganz oder teilweise als Therapieeinrichtungen für geistig abnorme Rechtsbrecher gewidmet, wodurch erstmals eine eigenständige forensische Behandlungspsychiatrie entstand. In zwei Fällen dienen Justizanstalten zur Gänze dem Behandlungsvollzug (die Justizanstalten Göllersdorf und Mittersteig zur Behandlung zurechnungsunfähiger bzw. zurechnungsfähiger geistig abnormer Rechtsbrecher), in den übrigen sechs Anstalten sind lediglich einzelne Abteilungen dem Sondervollzug gewidmet.
Die vorbeugende Maßnahme nach § 21 Abs. 1 StGB wurde zwischen 1975 und 1985 ausschließlich in den psychiatrischen Krankenhäusern vollzogen, da die dafür vorgesehene justizeigene Einrichtung (Justizanstalt Göllersdorf) erst 1985 eröffnet wurde. Bis zur Mitte der 1990er-Jahre fand man dort mit den zunächst 100, später 120 Männerbetten das Auslangen, und etwa zwei Drittel bis drei Viertel aller zurechnungsunfähigen Straftäter wurden in Göllersdorf behandelt, der Rest in den regionalen psychiatrischen Krankenhäusern, die nur zum geringeren Teil über forensische Abteilungen verfügten. Mit Beginn der 1990er-Jahre kam es zu einem kontinuierlichen Anstieg der Prävalenz von nach § 21 Abs. 1 StGB eingewiesenen Straftätern.
Seit 1990 ist eine deutliche Steigerung der Zahl der jährlichen Einweisungen in den Maßnahmenvollzug zu verzeichnen. Seit 2003 wurden jedes Jahr zwischen 80 und 100 Personen neu eingewiesen, im Vergleich dazu jedoch nahezu jedes Jahr deutlich weniger entlassen, es kam daher zu einem „Nettozugewinn“ an Maßnahmenpatienten.
Jährliche Einweisungen und Entlassungen zurechnungsunfähiger geistig abnormer Rechtsbrecher (§ 21/1 StGB) in Österreich
Aus diesen beiden Effekten (Anstieg der Einweisungsinzidenz; Entlassungsinzidenz niedriger als Einweisungsinzidenz) resultiert ein deutlicher Anstieg der Prävalenz, d. h. der Anzahl der schuldunfähigen Straftäter, die sich zu einem gegebenen Zeitpunkt in der Maßnahme nach § 21 Abs. 1 befinden. Während die jährliche Prävalenz bis 1990 ein stabiles Plateau von etwa 100 Insassen zeigte, kam es danach zu einem rapiden Anstieg. 2009 waren 339 Patientinnen und Patienten im Maßnahmenvollzug untergebracht.
Prävalenz (am 1. 1. jeden Jahres) zurechnungsunfähiger geistig abnormer Rechtsbrecher (§ 21/1 StGB) in Österreich, 1979–2009
Bis zu Beginn der 1990er-Jahre konnten bis zu drei Viertel dieser Patienten in der Justizanstalt Göllersdorf (JAGÖ) betreut werden. Die JAGÖ ist nach wie vor mit einer Bettenkapazität von 136 Betten in den Wohnstationen und 17 Akutbetten die zentrale Institution zur Behandlung von Untergebrachten, die in den Maßnahmenvollzug nach § 21 Abs. 1 eingewiesen wurden. Seit 1990 reichen die Behandlungsplätze der JAGÖ bei Weitem nicht mehr aus. Gegenwärtig kann nur etwas mehr als ein Drittel der Patienten dort behandelt werden. Die restlichen Insassen verteilen sich auf andere justizeigene Einrichtungen sowie auf die forensischen Abteilungen der Psychiatrischen Krankenhäuser in den Bundesländern.
Justizanstalten und psychiatrische Krankenhäuser mit Untergebrachten nach § 21/1
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