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Vom Wunsch, Indianer zu werden

Vom Wunsch, Indianer zu werden

Titel: Vom Wunsch, Indianer zu werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henisch
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Sicherheit zu wiegen, und eins, privatissimo, für sich.
    Ein doppelter Buchführer?
    Ja, so könnte man ihn nennen. – Heute legte ich bei einer Geschwindigkeit von siebeneinhalb Knoten 180 Meilen zurück, verzeichnete jedoch nur 140. In der Nacht legte ich weitere 60 Meilen zurück, verzeichnete aber nur 48. – Ich muß zugeben, daß mich gerade dieser Aspekt seiner Reise fasziniert.
    Und dann natürlich der Aufbruch ins Ungewisse. Stellen Sie sich vor, westlich der Canarischen Inseln wäre einfach nichts mehr gewesen. Nur Sonne und Salz und Wasser und Himmel, sonst nichts. Und sie wären weiter und weiter gesegelt, dieser Cristóbal Colón und seine durch das Versprechen auf Gold verblendeten Leute, und wenn sie nicht gestorben wären, so segelten sie noch heute.
    Und um mir
das
zu erzählen, haben Sie mich gesucht?
    Ein bißchen grausam, der junge Mann, den älteren Herrn so abrupt aus seinen philosophischen Hirnwellenbewegungen zu reißen.
    Ja. Das heißt nein. Ich wollte Sie etwas fragen. Oder vielleicht wollte ich Ihnen auch etwas sagen. Herrgott, Sie interessieren mich ganz einfach!
    So, interessant. Ich interessiere Sie. – Wie ein seltenes Insekt?
    Wie kommen Sie darauf? Insekt! – Wie ein seltener Mensch!
    Ich glaube, Sie verkennen mich, sagte der junge Mann, ich habe gestern zuviel geredet. Aber das war der Einfluß des Alkohols. Es wird nicht mehr vorkommen.
    Sie haben gar nicht zuviel geredet, sagte der Herr Burton, im Gegenteil. Ich habe zum Beispiel noch immer nicht ganz begriffen, wieso und zu welchem Ende Sie auf diesem Kahn fahren.
    Und warum, bitteschön, wollen Sie das wissen? fragte der junge Mann. Sie fahren ja auch auf diesem Kahn, und ich frage Sie nicht weiter, wozu.
    Er rückte ein Stück auf Distanz. Sind Sie vielleicht ein Detektiv?
    Sehe ich etwa so aus? Der Herr Burton fühlte sich geschmeichelt. Ich machte die Bekanntschaft des sehr honorablen Mr. Josh Tailor, Dirigent eines damals berühmten Privatdetektivcorps usf. Nein, mein Lieber, Detektiv bin ich keiner, da dürfen Sie sich beruhigen.
    Dann könne er ja, sagte der junge Mann, frei von der Leber weg reden. Also die Sache sei die: Er habe ein Dienstmädchen verführt.
    Wie bitte?
    Oder – vielleicht besser umgekehrt – das Dienstmädchen habe
ihn
verführt. Ja – der junge Mann lächelte kurz und schmerzlich –, diese Version wäre wahrscheinlich realistischer.
    Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstehe …
    Dochdoch, Sie verstehen mich schon richtig. Jedenfalls hat das Dienstmädchen ein Kind bekommen, und das hat alles noch verschlimmert. Meinen armen Eltern ist nichts übriggeblieben, als mich nach Amerika zu expedieren.
    Aber um diese Rolle glaubhaft zu verkörpern, dürfte der junge Mann, trotz seines juvenilen Aussehens, schon etwa zehn Jahre zu alt sein.
    Ihre Phantasie in Ehren, sagte Herr Burton.
    Ach was, sagte der junge Mann, er habe überhaupt keine ehrenwerte Phantasie. Manchmal empfinde er Scham über das, was ihm so einfalle … Und manchmal, ja manchmal bekomme er richtig Angst davor.
    Das Schlagen der Bahnhofsuhr in seinem Kopf. Kurz stehen geblieben war er, des Herzklopfens wegen. Extrasystolen: innerhalb der normalen, rhythmischen Herzschlagfolge durch anomale Erregungsbildung ausgelöste, vorzeitige Kontraktionen. Nimm Baldrian, hatte sein Onkel Siegfried gesagt, diese Erscheinungen sind im Grund genommen harmlos.
    Also weiter. Rasch den Parkteich entlang. Koffer in der Linken, Schirm, wieder abgespannt, in der Rechten. Einen schmalen Weg zwischen großen Sträuchern hatte er schlecht beleuchtet in Erinnerung. Aber für einen frühen Nachmittag Anfang September war diese Erinnerung zu dunkel.
    Jedenfalls sah er sich laufen – auf einen Platz, auf dem viele Bänke an Bäumchen gelehnt standen, sah er sich sogar
stürzen
. Nur gut, daß die Bänke um diese Zeit alle leer waren. Besser, sich zu beruhigen: einmal tief durchatmen. Die nächste Straße überquerte er unauffällig. Durch die Öffnung der Bahnhofstür allerdings
sprang
er.
    Was würden Sie übrigens davon halten, wenn ich mit der Kasse meiner Versicherungsgesellschaft durchgegangen wäre? Nicht wahr, das wäre doch eine schöne Geschichte?
    Die Lachfaltenkränze um Herrn Burtons Augen. Ja, sagte er. Er fange gerade an, daran Gefallen zu finden.
    Oder wie wärs – der junge Mann hatte einiges im Angebot –, wie wärs mit dieser: Die Versicherungsgesellschaft hätte mich auf eine zehntägige Dienstreise nach den nordböhmischen

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