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Vom Wunsch, Indianer zu werden

Vom Wunsch, Indianer zu werden

Titel: Vom Wunsch, Indianer zu werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henisch
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floh der andere nach Amerika.
    Nein, sagte Herr Burton heiser, das darf doch nicht wahr sein!
    Warum nicht?
    Weil … Weil genauso habe ich mich ein Leben lang gefühlt.
    Wie welcher? fragte der junge Mann sachlich interessiert, wie der im Gefängnis oder wie der in Amerika?
    Wie beide! Das sei ja das Fatale! Wie alle beide!
    Aber nein, das würde Herr Burton nicht sagen. Vielleicht wäre er nahe daran, aber letzten Endes ließe er sich nicht dazu hinreißen. Schon auf die Frage: Warum nicht? würde er natürlich anders antworten. Am ehesten so: Weil … Also weil ich einmal eine ganz ähnliche Geschichte gelesen habe.
    Und würde in die Ferne blicken, einen imaginären Punkt am Horizont fixierend.
    Der junge Mann, gottlob, würde nichts bemerkt haben.
    Warten Sie, wie war das bloß? Waren die beiden Brüder nicht Zwillinge, und liebten sie nicht ein und dasselbe Mädchen?
    Nein, würde der junge Mann sagen, meine Geschichte war eine andere.
    Ich war zwölf, als ich sie schreiben wollte, aber ich bin nie über den Anfang hinausgekommen. In den paar Zeilen, die ich zustande gebracht habe, war vor allem der Korridor des Gefängnisses beschrieben, seine Stille, seine Kälte …
    Herr Burton spürte, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief.
    Über den zurückbleibenden Bruder war auch ein mitleidiges Wort gesagt, weil er der gute Bruder war.
    Herr Burton versuchte sich eine Zigarette anzuzünden.
    Dieser Versuch mißlang. Zur Erleichterung des jungen Mannes.
    Sagen Sie, sagte Herr Burton schließlich, was ich Sie schon vorher fragen wollte … Haben Sie so etwas wie eine mediale Veranlagung?
    Nicht daß ich wüßte, sagte der junge Mann. Nein, er hoffe nicht.
    Nun, sagte Herr Burton, das sei doch nichts Unanständiges.
    Seine Frau, sagte Herr Burton, habe das beispielsweise auch.
    Was?
    Eine gewisse Disposition zum – wie soll man es nennen – Telepathischen.
    Der junge Mann schwieg.
    Vielleicht haben das ja alle sensiblen Menschen.
    Der junge Mann schwieg.
    Zumindest, sagte Herr Burton, eine gewisse Empfänglichkeit.
    Er meine: Eine gewisse Empfänglichkeit als Potentialität.
    Bei seiner Frau habe sich diese Potentialität durch die Auseinandersetzung mit dem Spiritismus entwickelt.
    Spiritismus?
    Sie haben schon richtig gehört.
    Also Telepathie, sagte der junge Mann, das könne er sich eventuell noch vorstellen. Zwischen einander sehr stark Liebenden oder Hassenden zum Beispiel. Aber Spiritismus? Nein, er glaube nicht an tote Geister.
    Er sei ja selbst, so Herr Burton, skeptisch gewesen.
    (Solange Emma sich als Medium versucht hatte, waren beim Tischchenrücken nichts als Banalitäten herausgekommen.)
    Doch gebe es bekanntlich Dinge im Himmel und auf der Erde …
    (Sobald sie Klara zu den Séancen zugezogen hatten, hatte sich das schlagartig geändert.)
    Emmas Geister! Meistens erschien ihr Onkel Emil oder ihre Tante Berta. Die hatten auch im Jenseits nichts anderes im Kopf als erzgebirgische Tratschgeschichten. Wer vor vierzig oder fünfzig Jahren zu tief ins Glas geschaut, wer wen um welchen lächerlichen Betrag geprellt, wer wen wie oft mit wem betrogen hatte … Da waren Klaras Geister von anderem Kaliber.
    Der arme Kaiser Maximilian von Mexico zum Beispiel und seine schöne Schwägerin Elisabeth. Ludwig von Bayern und seine Geliebte Lola Montez. George Sand mit und ohne Chopin, Mary Vetsera mit und ohne den Kronprinzen Rudolf, die Brüder Grimm und die Schwestern Brontë. Friedrich Schiller (zwei Drittel der Glocke zitierend), Napoleon (allerdings nur der dritte, der sich vor den ersten drängte) und ein Geist namens Gottlieb oder Gottfried, den zwar niemand bestellt hatte, der aber behauptete, Klara zu kennen (was sie dementierte), und ihr zuliebe mit dem Tisch die tollsten Sprünge machte.
    Es sei jedoch, sagte Herr Burton, nicht so sehr der Rapport mit den (origineller Ausdruck!)
toten
Geistern gewesen, der ihn frappiert habe. Sondern – aber wie sollte er das dem jungen Mann ohne zusätzliche Information erklären? Also passen Sie auf, sagte er, Sie schreiben ja offenbar auch. Leugnen Sie es nicht. Sie haben es ja inzwischen einige Male zugegeben. Sie schreiben:
auch
(er ließ die Betonung auf dem letzten Wort liegen). Oder Sie
haben
zumindest ein bißchen geschrieben. Und daß
ich
kein ganz unbekannter Mann der Feder bin, wenn auch nicht nur der Feder … Also das haben Sie, denke ich, mitgekriegt.
    Ich spreche also zu Ihnen als einem Kollegen. (Hier konnte sich der Herr Burton ein leicht

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