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Vom Wunsch, Indianer zu werden

Vom Wunsch, Indianer zu werden

Titel: Vom Wunsch, Indianer zu werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henisch
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Liegestuhl. Herr Burton hatte ihr Nachbild noch lange vor Augen. Wie sie im Liegestuhl saß und die vage Unruhe, in die sie seine Absicht, noch einmal ins Zwischendeck hinunterzusteigen, versetzte, durch beiläufiges Blättern in der G ARTENLAUBE kaschierte.
    Klara, die Einfühlsame. Sie hatte ihn nicht gefragt, ob sie ihn begleiten sollte. Natürlich, ihr Bedürfnis, die Exkursion von gestern abend zu wiederholen, hielt sich in Grenzen. Aber es war bestimmt nicht nur das gewesen. Sie hatte ganz richtig gespürt, daß die Suche nach dem jungen Mann, der ihn nur wenige Millimeter neben sein ohnehin angegriffenes Herz getroffen hatte, etwas war, wobei sie ihn, allen fraulichen, schwesterlichen und wohl auch krankenschwesterlichen Sorgen zum Trotz, allein lassen mußte.
    Er war also allein mit sich. Vielleicht lag es daran, daß ihm der Weg treppabwärts heute so lang vorkam. Allerdings schienen seine Knie, in denen er seine Abnützung am deutlichsten spürte, diesen Eindruck zu bestätigen. Zu viele Treppen zu steigen, tat ihnen nicht gut. Nach einer Weile hatte er das Gefühl, daß er sich eigentlich schon längst unter dem Kiel des Schiffes befinden müßte.
    Es wunderte ihn direkt, daß er letzten Endes doch noch vor der Tür stand, an der er und seine Frau gestern abend vom Zwischendeckinspektor erwartet worden waren. Sie war schmal, im gleichen Grau gestrichen wie die Wände des Ganges, und die eingelassene Klinke konnte man (die Beleuchtungsverhältnisse waren hier kaum besser als auf der Treppe) leicht übersehen. Noch mehr wunderte es ihn, daß die Tür, obwohl ihn der Zwischendeckinspektor, warum sollte er auch, heute nicht erwartete, ohne weiteres aufging. Da er die paar Holzstufen, die danach kamen, glatt vergessen hatte,
fiel
Herr Burton (nur mit Mühe konnte er einen tatsächlichen Sturz, bei dem er sich womöglich ernsthaft verletzt hätte, vermeiden), fiel er weit eher in den dahinterliegenden Raum, als daß er in diesen Raum eintrat.
    Ob es nicht doch eine falsche Tür war, die er geöffnet hatte? Jedenfalls schien ihm hier alles anders als gestern. Zuallererst die Dimensionen des Raumes, der, in seiner Längen- und Breitenerstreckung eher zu erahnen als zu erfassen, an eine große Scheune oder an eine Lagerhalle erinnerte. Es kam dem Herrn Burton so vor, als hätte man, wie zwischen zwei Akten im Theater, gewisse Zwischenwände, die es da irgendwo gegeben haben mußte, herausgenommen.
    Der Boden bedeckt mit Bündeln und/oder Menschen. Auch das war ihm gestern halb so schlimm erschienen. Vielleicht war das an der Anwesenheit des Zwischendeckinspektors gelegen, vielleicht hatte das ganze Zwischendeck um seinetwillen einen relativ zivilisierten Eindruck zu machen versucht. Heute jedenfalls konnte keine Rede davon sein, und der Zwischendeckinspektor, sosehr sein immer noch erhofftes Auftauchen den Herrn Burton erleichtert hätte, ließ sich nicht blicken.
    Binnen kurzem überkam den Herrn Burton ein sozusagen ägyptisches Gefühl. Ja, ein ganz ähnliches Gefühl wie damals – neun Jahre war das jetzt her – nach seiner Ankunft in Ägypten. Im April 1899, als er – auf seiner ersten wirklichen Orientreise – in Port Said gelandet war. Und sich dann, nach drei Tagen unter dem Ventilator im Hotel C ONTINENTAL , endlich aufgerafft hatte, ins Landesinnere vorzudringen.
    Genaugenommen kam er zuerst nur bis Kairo. Doch wurde ihm dort schon mulmig genug zumute. Der Lärm! Die Gerüche! Die Kinder! Die Bettler! Die Insekten! – Das Dunkel der Suks, in die er ohnehin nur ein paar zaghafte Schritte gewagt hatte, war ihm noch jetzt, in der bloßen Erinnerung daran, unheimlich.
    Und nun das hier! Gestern war ihm die, zugegeben, dichte Atmosphäre nicht halb so bedrohlich vorgekommen. Da hatte er den Erläuterungen des Zwischendeckinspektors zuhören, da hatte er seinerseits Klara die Ungerechtigkeit der Welt erklären können. Nun aber war er allein hier und ganz kommentarlos. Umgeben von nichts als Zwischendeckpassagieren.
    1864 oder ’65, ja, da hätte er diese Gesellschaft wohl noch besser ausgehalten. Auch 1869. Da hatte er noch ganz andere Gesellschaften ausgehalten, nolens volens. Das Echo einer Metalltür, die ins Schloß fiel, das Klirren eines gewaltigen Schlüsselbundes, der Nachhall von Schritten, die sich entfernten … Aber das war lang her, das war sehr lang her, so lang war das her, daß es eigentlich gar nicht mehr wahr war.
    Lügen, infame! Verleumdungen, impertinente! Rufmörderische Mißgunst!

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