Von ängstlichen Drachen, halben Mänteln und zahmen Wölfen - die schönsten Heiligenlegenden neu erzählt
Fenster die Gesichter von sechs Menschen auf: Drei Mädchen, drei Jungs und ein Mann mit Bart. Nikolaus erschrak fürchterlich und wollte gerade weglaufen, als der Mann im Fenster rief: „So bleiben Sie doch stehen, wir möchten uns doch nur bedanken und endlich wissen, wer so gut zu uns ist!“
Da sah Nikolaus ein, dass er jetzt nicht weglaufen durfte, und drehte sich wieder um. „Der Mann mit den schmutzigen Schuhen!“, rief derJunge verblüfft. „Unser Bischof Nikolaus“, rief der Mann mit Bart. Nikolaus musste schmunzeln. „Ihr habt wohl beide recht“, sagte er, „ich bin der Bischof mit den schmutzigsten Schuhen in der ganzen Stadt. Nun habt ihr mich gesehen.“
„Lieber Bischof Nikolaus, ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll!“ Der Vater war den Tränen nahe. „Wie kann ich das je wiedergutmachen?“
„Mit einem großen Gefallen“, antwortete Nikolaus, „verratet mich nicht. Ich möchte bei den Menschen sein und nicht in meinem Bischofssitz hocken und mich langweilen oder, schlimmer noch, verehren lassen. Ich möchte sein wie Jesus – und das, was ich tun kann für euch und andere, die leiden, tue ich, weil ich ihm nachfolgen will. Wenn ihr etwas tun wollt für mich, dann das: Sagt mir, wem es schlecht geht, wer was braucht unter den Armen, und ich will es besorgen, wenn ich kann. Aber nur, wenn ihr unser Geheimnis bewahrt!“ Nikolaus zwinkerte ihnen zu. Da grinsten alle Kinder und auch der Vater über das ganze Gesicht und zwinkerten zurück.
Wenn Nikolaus jetzt mit schmutzigen Schuhen auf den Markt kam und sie sich von dem Jungen putzen ließ, unterhielten sie sich über die Menschen in den armen Vierteln der Stadt. Der Junge erzählte, wem es gerade schlecht ging und wer Mehl oder Zucker, Eier, ein paar Dachziegel oder ein Huhn, einen Arzt oder eine Medizin brauchte, und Nikolaus stellte all das nachts heimlich vor die Tür der Menschen. Niemand fand je heraus, woher all die guten Gaben kamen. Aber wenn Nikolaus einem aus der Familie von Hieronimus, dem Gerber, begegnete, zwinkerten sie sich heimlich zu und lächelten wissend.
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Namenstag:
6. Dezember
Barbara blüht auf
„Nein!“, rief Barbara . Ihre Stimme zitterte vor Wut – und auch ein bisschen vor Angst. Ihrem Vater zu widersprechen war nämlich nicht ganz ungefährlich. Das hatte sie schon ein paarmal bei anderen Gelegenheiten erlebt. Er war nämlich nicht nur schrecklich jähzornig und stur, sondern auch noch schrecklich reich und mächtig. Und er ließ kaum eine Gelegenheit aus, andere Menschen das spüren zu lassen. So war manch einer seiner Untertanen oder auch Geschäftspartner im Gefängnis oder sogar am Galgen gelandet, weil er es gewagt hatte, anderer Meinung zu sein oder sich nicht seinem Willen zu beugen.
Und jetzt hatte es sie selbst getroffen! Seit Wochen lag ihr Vater ihr in den Ohren, sie solle diesen Kerl heiraten, der am Hof des Kaisers lebte. „Ja, Majestät, nein, Majestät, sehr wohl, Majestät“, das war alles, was sie ihn bisher hatte sagen hören. So ein Speichellecker! Und mit dem sollte sie den Rest ihres Lebens verbringen? „Nur über meine Leiche“, dachte sich Barbara.
Heute war ihr Vater ohne anzuklopfen in ihr Zimmer gestürmt und hatte ihr verkündet: „Also, der Hochzeitstermin steht fest: Zum Erntefest wirst du die Seine werden!“ Jetzt stand sie hier, starrteihm in die Augen und war mindestens so wütend wie er. „Ich werde diesen Kerl nicht heiraten“, und mutig setzte sie hinzu: „und wenn du mich deswegen einsperrst!“
Ihr Vater war vor Wut rot angelaufen. Doch plötzlich verwandelte sich sein verzerrtes Gesicht in ein bösartiges Grinsen. „Wohl gesprochen, meine Tochter, dann werde ich dich eben einsperren, bis du zur Vernunft kommst!“ Dann öffnete er die Tür und rief nach seinen Wachen. Als sie schüchtern in Barbaras Zimmer tragen, sagte er zu ihnen: „Nehmt meine Tochter mit, sie ist von Sinnen und braucht eine Zeit für sich. Sperrt sie in den alten Wohnturm. Dort soll es ihr an nichts fehlen, aber verriegelt alle Türen, damit sie sich nicht am Ende etwas Böses antut!“ Barbara konnte es nicht glauben – ihr eigener Vater ließ sie einsperren! Doch schließlich war sie seine Tochter und hatte von ihm nicht nur ihre Sturheit geerbt, sondern auch den Stolz. Und so ließ sie sich ohne ein Wort von den Wachen abführen und im Turm einsperren. „Hier habe ich wenigstens meine Ruhe vor ihm“, dachte Barbara, „und er nervt mich nicht mehr ständig mit
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