Von den Sternen gekuesst
bisschen zu spät gekommen. Wären wir rechtzeitig hier gewesen, hätten wir weniger unserer Anverwandten verloren.«
»Aber wie habt ihr uns gefunden?«
»Ich bin der Seher von Bordeaux«, erklärt er. »Ich habe deine Aura gesehen. Als sie nicht nachließ, habe ich mich mit meinen Anverwandten auf den Weg hierher gemacht. Unterwegs haben wir weitere Bardia getroffen.« Er macht einen Schritt beiseite, damit ein weiterer Mann zu mir kommen kann.
Ganz wie ich vermutet hatte, waren Jean-Baptiste und Uta nicht die Einzigen, die mein Strahlen gesehen hatten.
»Esteban Aragón. Seher von Barcelona«, stellt sich ein dunkelhaariger Junge vor. Hinter ihm folgt ein Seher aus Belgien. Sie alle waren meiner Aura gefolgt, um uns zu unterstützen.
»Dein Erscheinen markiert den Beginn einer neuen Ära«, sagt Uta. »Deine Arbeit hat gerade erst begonnen. Und wer weiß, in diesen modernen Zeiten beschränkt sich dein Wirkungsbereich vielleicht nicht nur auf diese Region hier wie bei früheren Meistern und Meisterinnen. Ich bin schon sehr gespannt, was die Zukunft unter dem Einfluss unser neuen Bardia-Meisterin für uns bereithält.« Sie verbeugt sich spielerisch, während die anderen Seher ihr laut zustimmen.
Vincent bittet die Pariser Revenants, dafür zu sorgen, dass jeder der anwesenden Bardia nach La Maison gebracht wird, um sich dort waschen, umziehen und ausruhen zu können. Bald sind nur noch Vincent, ich und eine Handvoll unserer Leute in der nun fast verlassenen Arena.
»Wo ist Jules?«, frage ich, plötzlich beunruhigt. Ich hatte ihn das letzte Mal während der Trauerzeremonie gesehen.
»Er ist schon weg. Es tut ihm immer noch zu weh, hier bei uns in Paris zu sein. Er braucht noch ein bisschen Zeit, bis er zu einem Besuch hierher zurückkehren kann. Oder für länger«, erklärt Vincent leise.
Ich kann es zwar verstehen, aber es gefällt mir nicht. Ich wünschte, wir könnten wieder so unbeschwert miteinander umgehen wie früher. Wie echte Freunde, nicht wie todunglückliche Fremde.
Dabei kann Jules gar nicht zu einem Fremden werden. Ich bin mir sicher, dass er wieder nach Paris zurückkehren wird. Gefühle verändern sich mit der Zeit. Zumindest lässt der Schmerz nach einer Weile nach, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Mittlerweile kann ich an meine Eltern denken, ohne dass es mich unendlich traurig macht. Ich kann mich an sie erinnern und dankbar sein für die Zeit, die wir miteinander hatten, auch wenn sich das Loch, das sie in meinem Herzen hinterlassen haben, niemals füllen wird. Vincent und ich wenden dem Feuer den Rücken und gehen los. Er will mir seinen Arm um die Schultern legen, doch als er den Verband sieht, zögert er. »Ist mit dir alles in Ordnung?«, fragt er und berührt vorsichtig die Bandage.
»Keine Ahnung, ist mit mir alles Ordnung?« Eigentlich hatte ich das lustig gemeint, doch dann bemerke ich die Mehrdeutigkeit. Und plötzlich spüre ich, wie erschöpft ich bin. Ist mit mir alles in Ordnung? Werde ich mich je wieder so fühlen, als wäre alles in Ordnung? Ich würde Vincent liebend gern umarmen, aber ich habe das unbestimmte Gefühl, dass er sich zurückhält. Und nicht nur aus Angst davor, mir wehzutun.
»Lass uns nach Hause fahren«, sagt er und nimmt meine Hand. Zusammen verlassen wir die Arena, laufen durch den Gang zwischen hohen Steinmauern hindurch und hinaus aus dem Tor. Der Wagen steht noch immer da, wo Vincent ihn abgestellt hatte. Er öffnet die Beifahrertür für mich.
»Ich möchte noch nicht nach Hause«, sage ich.
Vincent sieht überrascht aus.
»Wir haben doch Zeit oder werden wir erwartet?«, frage ich. »Ich möchte … Nein, ich muss ein bisschen gehen.« Alles in meinem Bauch hat sich verkrampft, ich bin körperlich über alle Maßen erschöpft. Doch in mir haben sich alle Emotionen der letzten Stunden angestaut – die Angst, der Schmerz, die Verzweiflung gefolgt von der Erleichterung, dem Jubelgefühl und gleichzeitig der Trauer –, dass mir absolut nicht nach still sitzen ist. Eher nach rennen.
Vincent nimmt meine Hand und führt sie über seine Wange. Er schließt die Augen, genießt die Berührung. Dann umschließt er meine Hand und wir gehen los.
Bald erreichen wir den Jardin des Plantes und schlendern hindurch. Allmählich wandelt sich das Licht am Himmel von samtenem Schwarz zu Stahlgrau. Wir überqueren die Straße, um auf die Uferpromenade zu gelangen, direkt neben dem sich kräuselnden Fluss. »Sieh mal, wo wir sind«, sage ich nach einer
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