Von der Nacht verzaubert
fragte mich, seit wann sich meine Vernunft von einem schönen Gesicht täuschen ließ.
I n den folgenden Wochen gingen mir die Ereignisse dieses Tages wieder und wieder durch den Kopf, wie bei einer Platte, die einen Sprung hatte. Dabei habe ich nach außen bestimmt ganz normal gewirkt. Bin jeden Morgen aufgestanden, habe in wechselnden Cafés gelesen, bin gelegentlich ins Kino gegangen und habe versucht, mich an den Gesprächen beim Abendessen zu beteiligen. Trotzdem muss meiner Familie aufgefallen sein, dass mich etwas belastete. Aber es gab keinen Anlass, hinter meiner finsteren Laune einen neuen Grund zu vermuten.
Wenn Vincent sich einen Weg in meine Gedanken bahnte, verscheuchte ich ihn gleich wieder. Warum hatte ich mich bloß so sehr täuschen lassen? Dass er Teil einer kriminellen Vereinigung war, leuchtete mir mehr und mehr ein, besonders wenn ich mich an die Ereignisse am Fluss erinnerte. Damals mussten wir Zeugen eines Bandenkrieges geworden sein. Selbst wenn er ein Krimineller ist, er hat dem Mädchen das Leben gerettet, nörgelte mein Gewissen.
Aber was immer ihm in der Vergangenheit zugestoßen sein mochte, es konnte seine schreckliche Abgeklärtheit nach Jules’ Unfall einfach nicht rechtfertigen. Wer verließ den Ort, an dem gerade ein Freund gestorben war, nur um sich selbst vor dem Gesetz in Sicherheit zu bringen? Das erschütterte mich zutiefst. Gerade weil ich mich schon ein bisschen in ihn verliebt hatte.
Seine charmante Art, wie er mich im Musée Picasso aufgezogen hatte. Sein intensiver Gesichtsausdruck, als er im Hof von Jules’ Haus meine Hand genommen hatte. Der Trost, den ich spürte, als er im Taxi seine Hand in meine Hand geschoben hatte. All diese Augenblicke tauchten immer wieder vor meinem geistigen Auge auf und erinnerten mich an das, was ich an ihm gemocht hatte. Ich verdrängte sie Mal um Mal, nicht ohne mich wahnsinnig über meine eigene Naivität zu ärgern.
Eines Abends konfrontierte Georgia mich in meinem Zimmer. »Was ist eigentlich los mit dir?«, fragte sie, so taktvoll, wie ich es von ihr gewohnt war. Sie ließ sich auf meinen Teppich fallen und lehnte sich schwungvoll gegen meine unbezahlbare Empirekommode, die ich nicht benutzte, weil ich mich zu sehr davor fürchtete, einen der kostbaren Griffe abzubrechen.
»Was meinst du?«, fragte ich zurück und vermied es, ihr in die Augen zu sehen.
»Ich meine: Was ist los mit dir, verdammt noch mal? Ich bin deine Schwester. Ich spüre doch, wenn was nicht stimmt.«
Ich hatte mich danach gesehnt, mit Georgia zu sprechen, aber ich wusste gar nicht, wo ich anfangen sollte. Es war unmöglich, ihr einfach so zu erzählen, dass der Typ, den wir bei seinem Sprung von der Brücke beobachtet hatten, in Wirklichkeit eine Art Verbrecher war, mit dem ich mich hin und wieder getroffen hatte. Natürlich nur so lange, bis ich mit eigenen Augen zusehen musste, wie er einen Freund verloren und darüber nicht mal eine einzige Träne vergossen hatte.
»Gut, wenn du es mir nicht sagen willst, dann fange ich an zu raten. Aber ich rate so lange, bis ich es aus dir rausgekitzelt habe. Machst du dir Sorgen wegen der neuen Schule?«
»Nein.«
»Hat es etwas mit Freunden zu tun?«
»Mit was für Freunden denn?«
»Genau das meine ich doch.«
»Nein.«
»Jungs?«
Irgendwas musste mich verraten haben, denn Georgia setzte sich ruckartig in den Schneidersitz. Ihre Pose sagte eindeutig ›Ich will alles wissen‹. »Kate, warum hast du mir nicht schon längst von ihm erzählt? Bevor es so weit gekommen ist?«
»Du erzählst mir ja auch nichts von deinen Freunden.«
»Weil es davon viel zu viele gibt.« Sie lachte, und als ihr wieder einfiel, wie niedergeschlagen ich war, fügte sie hinzu: »Die sind alle nicht der Rede wert, da ist nichts Ernsthaftes dabei. Zumindest noch nicht.« Sie wartete.
Es war offensichtlich, dass sie nicht locker lassen würde. »Also gut. Da gab es diesen Typen aus unserer Nachbarschaft. Wir haben uns ein paar Mal getroffen, bis ich herausgefunden habe, dass er nichts als Ärger bedeutet.«
»Wie arg ist der Ärger? Verheiratet?«
Ich musste lachen. »Nein!«
»Drogenabhängig?«
»Nein. Oder vielmehr glaube ich das nicht. Es ist was anderes.« Ich beobachtete ganz genau Georgias Reaktion. »Er hat irgendwelche Probleme mit dem Gesetz. Ist irgendwie kriminell oder so.«
»Das klingt allerdings nach Ärger«, stimmte sie nachdenklich zu. »Klingt eher wie ein Typ, auf den ich stehen würde, ehrlich
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