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Von der Nacht verzaubert

Titel: Von der Nacht verzaubert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy Plum
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Überschriften, um zum Leitartikel zu gelangen. Irgendwie war es schwer vorstellbar, dass so viel Gewalt direkt gegenüber am anderen Ufer im Quartier Latin stattgefunden haben sollte, gerade mal fünfzehn Gehminuten von hier entfernt.
    Ich wechselte die Spule. Die Unruhen waren am 14. Juli — dem französischen Nationalfeiertag — noch einmal aufgeflammt. Viele Studenten, aber auch Touristen, die wegen der Feierlichkeiten nach Paris gekommen waren, mussten in nahegelegene Krankenhäuser gebracht werden. Ich notierte mir ein paar Informationen von den ersten Seiten und blätterte dann weiter zu der Doppelseite mit den Nachrufen. Ein paar waren mit Schwarz-Weiß-Fotos versehen. Und da sah ich ihn.
    In der Mitte der ersten Seite. Es war Vincent. Er hatte längere Haare, aber er sah genauso aus wie vor einem Monat. Mir wurde eiskalt, als ich den Text las.
    Der neunzehnjährige Feuerwehrmann Jacques Dupont, geboren in La Baule, Pays de la Loire, starb gestern Abend während eines Gebäudebrands, der vermutlich von aufständischen Studenten durch Molotowcocktails entfacht worden war. Das Wohnhaus in der 18 Rue Champollion stand in Flammen, als Dupont und sein Kollege, Thierry Simon (Nachruf unter S), den Hausinsassen zu Hilfe eilten, die dort vor den Kämpfen in der angrenzenden Sorbonne Schutz gesucht hatten. Dupont wurde von herabstürzenden Balken eingeklemmt und verstarb, bevor er in ein Krankenhaus eingeliefert werden konnte. Zwölf Menschen, darunter vier Kinder, verdanken diesen beiden Helden ihr Leben.
    Das kann er nicht sein , dachte ich. Vielleicht war es sein Vater, dem er wie aus dem Gesicht geschnitten war — und der vor seinem Tod noch einen Sohn gezeugt hatte, bevor er im Alter von (ich warf einen Blick auf den Anfang des Nachrufs) neunzehn gestorben war. Das war zumindest nicht unmöglich ...
    Aber wenn es so war, dann müsste Vincent inzwischen älter sein. Insofern überzeugte meine Schlussfolgerung nicht mal mich selbst und ich blätterte zur nächsten Seite, um unter S nach »Simon« zu suchen. Da fand ich ihn: Thierry Simon.
    Es war der muskulöse Typ, der Georgia und mich damals von dem Handgemenge an der Seine weggeführt hatte. Thierry hatte auf dem Foto zwar einen üppigen Afro, lächelte aber genauso selbstsicher wie bei unserem ersten Aufeinandertreffen auf der Caféterrasse. Das war hundertprozentig derselbe Mann — nur dass das Bild über vierzig Jahre alt war.
    Ich schloss ungläubig die Augen. Als ich sie wieder öffnete, las ich die Meldung unter seinem Foto. Dort standen dieselben Informationen wie in Jacques’ Artikel, nur dass als Alter zweiundzwanzig Jahre und als Geburtsort Paris angegeben wurden.
    »Jetzt kapier ich gar nichts mehr«, flüsterte ich. Wie betäubt drückte ich einen Knopf an dem Gerät, um beide Seiten auszudrucken. Nachdem ich die Mikrofilmspulen zurückgegeben hatte, verließ ich ziemlich verwirrt die Bibliothek. Ich zögerte kurz, bevor ich die Rolltreppe zum nächsten Stockwerk betrat. Dann entschied ich, einfach so lange im Museum zu bleiben, bis ich mir darüber im Klaren war, was ich als Nächstes tun sollte.
    Meine Gedanken schweiften in alle möglichen Richtungen. Ich ließ das Drehkreuz hinter mir und betrat die gigantisch hohe Galerie, in deren Mitte Bänke standen. Ich setzte mich, nahm meinen Kopf in beide Hände und versuchte, ein wenig Klarheit in die Sache zu bringen.
    Irgendwann schaute ich auf. Ich saß in der Abteilung, die sich der Kunst von Fernand Léger widmete, einem meiner Lieblingsmaler aus dem frühen und mittleren zwanzigsten Jahrhundert. Meine Augen ruhten auf den zweidimensionalen Gemälden mit ihren grellen Farben und geometrischen Formen. Endlich rückte in mir wieder etwas in die richtige Perspektive. Ich blinzelte in die Ecke, in der mein Lieblingsbild von Léger hing: Darauf waren Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg wie Roboter gemalt, die um einen Tisch saßen, Pfeife rauchten und Karten spielten.
    Ein junger Mann stand davor und lehnte sich gerade vor, um sich den Aufbau etwas genauer anzusehen. Er war mittelgroß, hatte kurze Haare und schmutzige Klamotten. Wo hab ich den bloß schon mal gesehen?, dachte ich und fragte mich, ob er mit mir zur Schule ging.
    Doch dann drehte er sich um und mir klappte die Kinnlade runter, weil ich es nicht fassen konnte. Der Typ am anderen Ende des Raumes war Jules.

 
    I ch fühlte mich, als habe sich mein Körper von meinem Verstand gelöst. Wie hypnotisiert erhob ich mich und ging auf das

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