Von der Nacht verzaubert
gesagt.«
»Georgia!«, rief ich und warf ein Kissen nach ihr.
»Entschuldige, darüber sollte ich keine Witze machen. Aber du hast recht. Das klingt nicht gerade nach hohem Schwiegersohnpotenzial, Katie-Bean. Warum bist du nicht einfach froh, dass du noch rechtzeitig die Notbremse gezogen hast? Jetzt kannst du unbeschadet neues Jungsterrain erobern.«
»Ich verstehe einfach nicht, wie ich mich so sehr in ihm täuschen konnte. Er wirkte so perfekt. Und so interessant. Und so ...«
»Attraktiv?«, unterbrach meine Schwester mich.
Ich ließ mich auf mein Bett sinken und starrte an die Decke. »Ach, Georgia. Nicht attraktiv. Umwerfend. So traumhaft schön, dass einem das Herz stehen bleibt. Was natürlich jetzt auch keinen Unterschied mehr macht.«
Georgia stellte sich hin und sah auf mich hinunter. »Es tut mir wirklich leid, dass es vorbei ist. Mich hätte es wahnsinnig gefreut zu sehen, wie du dich mit einem scharfen Franzosen amüsierst. Ich werde dich nicht mehr mit Fragen nerven, aber wenn dir mal wieder nach Feiern ist, sag Bescheid. Hier steigt fast jede Nacht ‘ne Party.«
»Danke, Georgia«, sagte ich und nahm ihre Hand.
»Ich tu doch alles für meine kleine Schwester.«
Und dann, ohne dass es mir großartig aufgefallen wäre, war der Sommer auch schon vorbei und die Zeit gekommen, wieder zur Schule zu gehen.
Georgia und ich sprechen fließend Französisch. Papa hat immer Französisch mit uns geredet und weil wir fast alle Ferien in Paris verbracht haben, geht uns die Sprache so leicht von der Zunge wie Englisch. Wir hätten also auch auf eine französische Schule gehen können, aber weil das französische Schulsystem sich sehr vom amerikanischen unterscheidet, hätten wir unheimlich viel nachholen müssen, um zur Abschlussprüfung zugelassen zu werden.
Die American High School of Paris ist einer jener merkwürdigen Orte, an denen Auswanderer Zusammenkommen und so tun, als wären sie immer noch zu Hause. Für mich war sie ein Ort der verlorenen Seelen. Für meine Schwester bot sie die Möglichkeit, noch mehr internationale Freunde zu finden, die sie in den Ferien in ihren Heimatländern würde besuchen können. Georgia geht mit Freunden um wie mit Klamotten. Sie wechselt sie gern, so wie es ihr eben passt — und sie meint das auch gar nicht böse, sie legt sich nur einfach nicht gerne fest.
Ich als Elftklässlerin hatte nur zwei Jahre mit diesen Leuten vor mir, von denen einige schon in ihr Heimatland zurückkehren würden, bevor das Schuljahr überhaupt vorbei war.
Nachdem wir also an unserem ersten Schultag durch die große Eingangstür getreten waren, ging ich direkt ins Sekretariat und holte meinen Stundenplan ab. Georgia dagegen spazierte zielstrebig auf einige Mädels zu, deren Aussehen eher Furcht einflößend wirkte, und quatschte mit ihnen, als würden sie sich schon ewig kennen. Schon nach fünf Minuten waren die Weichen für unsere soziale Zukunft gestellt.
Seit ich Vincent im Musée Picasso begegnet war, hatte ich kein Museum mehr betreten. Deshalb näherte ich mich dem Centre Pompidou an einem Nachmittag nach der Schule eher zögerlich. Mein Geschichtslehrer hatte uns aufgetragen, ein Ereignis zu beschreiben, das im zwanzigsten Jahrhundert in Paris stattgefunden hatte. Meine Wahl war auf die Unruhen von 1968 gefallen.
Egal zu welchem Franzosen man »Mai 1968« sagt, alle werden sofort an den Generalstreik denken, der die französische Wirtschaft komplett lahmlegte. Ich wollte mir die wochenlange gewalttätige Auseinandersetzung zwischen der Polizei und Studenten der Sorbonne genauer anschauen. Wir sollten unsere Texte in der ersten Person schreiben, so als wären wir selbst dabei gewesen. Statt also Geschichtsbücher zu wälzen, wollte ich in den Zeitungen aus der damaligen Zeit nach persönlichen Berichten suchen.
Die Archive befanden sich in der großen Bibliothek, die sich über den ersten und zweiten Stock des Centre Pompidou erstreckte. Da sich in den anderen Stockwerken das Musée National d'Art Moderne befand, wollte ich meine Recherche für die Schule im Anschluss mit einer wohlverdienten Ration Kunsthypnose abrunden.
Ich nahm eins der Lesegeräte in Beschlag und spulte mich durch die Mikrofilmrollen der ereignisreichsten Tage. Vorab hatte ich gelesen, dass es am 10. Mai zu erbitterten Kämpfen zwischen der Polizei und den Studenten gekommen war. Also las ich zunächst die erste Seite einer Tageszeitung vom 10. Mai, machte ein paar Notizen und übersprang die meisten
Weitere Kostenlose Bücher