Von der Nacht verzaubert
über seine Genesung auf dem Laufenden gehalten. Schon am Tag, nachdem er erstochen worden war, fing die Wunde an zu heilen und Vincent versicherte mir, dass Ambrose wie immer so gut wie neu wäre, sobald er aufwachte.
»Ja, Kate. Ich hab dir doch gesagt, dass es ihm gut geht.«
»Ich weiß, ich kann es nur immer noch nicht glauben.«
»Du kannst dich ja mit eigenen Augen davon überzeugen, willst du vorbeikommen? Oder wollen wir zuerst was zusammen unternehmen? Da wir den Besuch im Les Deux Magots überstanden haben, ohne getötet oder verletzt worden zu sein, dachte ich, wir versuchen unser Glück dort noch mal.«
»Gern, hier gibt‘s erst in ein paar Stunden Abendessen.«
»Dann bin ich in fünf Minuten da.«
»Perfekt.«
Vincent wartete schon mit seiner Vespa vorm Haus, als ich auf die Straße trat.
»Du bist ganz schön schnell«, sagte ich und nahm den Helm entgegen.
»Das werte ich jetzt mal als Kompliment«, erwiderte er.
Es war der erste kalte Tag dieses Oktobers. Wir saßen vor dem Café auf dem Boulevard Saint-Germain unter einem dieser riesigen Heizstrahler, die auf sämtlichen Terrassen wie Pilze aus dem Boden schießen, sobald es draußen kühler wird. Die Wärme, die von ihm ausging, umfing meine Schultern wie eine Decke, während die heiße Schokolade mich von innen wärmte.
»Das ist mal heiße Schokolade«, sagte Vincent und ließ die zähflüssige, geschmolzene Schokolade in seine Tasse laufen, bevor er aus einem anderen Kännchen aufgeschäumte Milch aufgoss. Wir machten es uns gemütlich und beobachteten die Passanten, die zum ersten Mal in diesem Herbst Mäntel, Mützen und Handschuhe trugen.
Vincent lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Kate, mein Schatz«, fing er an. Ich hob meine Augenbrauen und Vincent musste lachen. »Meinetwegen auch einfach nur Kate. Im Zuge unserer Enthüllungsvereinbarung wollte ich dir anbieten, eine Frage zu beantworten.«
»Welche Frage?«
»Egal welche, denk dir eine aus, solange sie sich nicht auf das zwanzigste, sondern das einundzwanzigste Jahrhundert bezieht.«
Ich dachte kurz nach. Mich interessierte brennend, wer er vor seinem Tod gewesen war. Seinem ersten Tod. Aber das wollte er mir offenbar noch nicht erzählen.
»Also gut. Wann bist du das letzte Mal gestorben?«
»Vor einem Jahr.«
»Wie?«
»Bei einem Brand.«
Ich machte eine Pause und fragte mich, wie viel er mir wohl verraten würde. »Tut es weh?«
»Tut was weh?«
»Das Sterben. Ich vermute, das erste Mal unterscheidet sich von allen anderen. Aber wenn du stirbst, um jemandem das Leben zu retten ... Tut das weh?«
Vincent beobachtete mich ganz genau, bevor er antwortete. »Es tut genauso weh, als wenn man als Mensch von der U-Bahn überfahren wird. Oder unter einem Haufen brennender Balken erstickt.«
Ich bekam eine Gänsehaut, während mir klar wurde, dass manche Leute — oder um genau zu sein: Revenants — diese Todesschmerzen nicht nur ein Mal ertragen mussten, sondern bei jedem Sterben. Immer wieder. Freiwillig. Vincent sah mein Unbehagen und nahm meine Hand. Die Berührung beruhigte mich, aber nicht auf übernatürliche Art.
»Und warum machst du es dann? Habt ihr ein übermäßig entwickeltes Pflichtgefühl der Menschheit gegenüber? Oder schuldet ihr das dem Universum, weil es euch unsterblich gemacht hat? Natürlich habe ich einen wahnsinnigen Respekt davor, dass ihr Menschenleben rettet, aber warum hört ihr nicht nach ein paar Jahren auf und werdet einfach älter, so wie Jean-Baptiste? Bis ihr irgendwann auf natürliche Weise sterbt?« Ich verstummte kurz. »Ich sterbt doch auch irgendwann, oder?«
Meine letzte Frage völlig außer Acht lassend, lehnte sich Vincent zu mir und sagte sehr ernst, als würde er ein Geständnis ablegen: »Kate, es ist wie ein Zwang. Es baut sich ein solcher Druck auf, dass man es irgendwann einfach wieder tun muss. Reine Menschenliebe oder die Aussicht auf Unsterblichkeit könnten niemals den Schmerz oder das Trauma aufwiegen, das so eine Rettung verursacht. Es ist einfach gegen unsere Natur, es nicht zu tun.«
»Wie konnte Jean-Baptiste diesem Drang dann widerstehen? Und das seit über dreißig Jahren?«
»Je länger man Revenant ist, desto leichter fällt es einem, sich diesem Zwang zu widersetzen. Aber auch mit seiner jahrhundertealten Erfahrung kostet es ihn eine gewaltige Portion Selbstbeherrschung, das Bedürfnis zu unterdrücken. Doch er hat einen ziemlich guten Grund. Er beherbergt nicht nur unseren kleinen Klan, sondern
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