Von der Nacht verzaubert
Blutung zu stoppen? Der Fahrer flippt noch aus, wenn wir ihm seine Rückbank versauen«, flüsterte Vincent.
»Warum wollen sie denn seine Leiche haben, wenn sie ihn doch schon umgebracht haben? Und warum töten sie ihn überhaupt, wenn sie wissen, dass er sowieso in drei Tagen wieder aufwacht?«, fragte ich Vincent und ignorierte ihre merkwürdige Unterhaltung.
Vincent zögerte und wog offenbar ab, ob er mir das erklären sollte oder nicht. Dann betrachtete er den Körper von Ambrose, der halb auf mir hing, und flüsterte: »Nur so kann man uns endgültig vernichten. Wenn sie uns töten und dann unsere Leichen verbrennen, sind wir für immer ausgelöscht.«
Georgia raste vor Wut. Ich konnte es ihr nicht mal verübeln.
Als wir vor Vincents Haus hielten, hatten wir es per SMS ausgefochten.
Georgia: Wo seid ihr?
Ich: Ambrose krank. Mussten nach Hause.
Georgia: Warum habt ihr mich nicht geholt?
Ich: Haben 's versucht, sind nicht durchgekommen.
Georgia: Ich hasse dich gerade abgrundtief, Kate Beaumont Mercier.
Ich: Es tut mir SCHRECKLICH LEID.
Georgia: Bin hier auf ein paar Freunde gestoßen, die mich vor der schlimmsten Demütigung bewahrt haben. Aber ich bin trotzdem stinksauer auf dich.
Ich: Entschuldige.
Georgia: Ich hab dir noch NICHT verziehen.
Vincent und ich wollten Ambrose ins Haus helfen, aber nachdem er aus dem Taxi gestiegen war, richtete er sich auf und schob unsere Hände beiseite. »Ich hab’s jetzt langsam raus. Mann, ist dieser Kerl schwer. Wie kann der sich mit diesen vielen Muskeln überhaupt bewegen?«
Als wir vorm Eingang standen, warf Vincent mir einen unentschlossenen Blick zu.
»Ich geh dann mal nach Hause«, sagte ich und kam ihm damit zuvor.
Er sah erleichtert aus. »Ich kann dich begleiten, wenn du kurz wartest. Wir müssen ihn nur schnell hinlegen.«
»Nein, nein, ich komm schon klar«, sagte ich. Seltsamerweise stimmte das sogar. Trotz aller Merkwürdigkeiten und Schrecken des Tages ging es mir gut. Ich kann damit umgehen, dachte ich, als ich den Hof verließ und nach Hause ging.
W enn Georgia schmollt, ist das alles andere als schön. Obwohl ich mich bestimmt tausend Mal bei ihr entschuldigt hatte, redete sie nicht mit mir.
Das machte es zu Hause natürlich ziemlich ungemütlich. Mamie und Papy ignorierten diese Tatsache, so gut es ging, doch am fünften Tag nach meinem unverzeihlichen Vergehen nahm Papy mich beiseite und sagte: »Warum kommst du heute nicht mal bei mir im Laden vorbei?« Er deutete kurz in die Richtung meiner beleidigten Schwester und warf mir dann einen Blick zu, der offensichtlich Hier können wir nicht offen reden bedeutete. »Du warst schon ewig nicht mehr da, ich habe ziemlich viele neue Stücke, die du noch nicht kennst.«
Nach der Schule fuhr ich sofort zu Papys Antiquitätengeschäft. Seinen Laden zu betreten war wie in ein Museum zu kommen. Dafür sorgten das gedämpfte Licht, die antiken Statuen, die einander gegenüberstanden, und die Glasvitrinen, in denen Artefakte aus Ton oder verschiedenen edlen Metallen ausgestellt waren.
»Ma princesse«, rief Papy laut, als er mich sah, und durchbrach so die Stille, die in den Räumen geherrscht hatte. Ich zuckte zusammen. Das war der Spitzname, mit dem mein Vater mich immer angesprochen hatte. Seit seinem Tod hatte mich niemand mehr so genannt. »Du bist wirklich gekommen. Na, was ist hier neu?«
»Er hier, zum Beispiel«, sagte ich und zeigte auf eine lebensgroße Statue eines jungen durchtrainierten Mannes, der mit einem Fuß vortrat und dessen eine Hand seitlich des Körpers zur Faust geballt war. Der andere Arm und die Nase fehlten.
»Ah, mein Kouros«, sagte Papy und ging zu der marmornen Statue. »Fünftes Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Eine wahre Errungenschaft. Die griechische Regierung erlaubt ihre Ausfuhr gar nicht mehr, aber ich habe sie einem Sammler aus der Schweiz abgekauft. Sie hat sich schon seit dem neunzehnten Jahrhundert in dessen Familienbesitz befunden.« Er führte mich als Nächstes zu einem mit Edelsteinen besetzten Reliquienschrein, der in einer Vitrine stand. »Man weiß heutzutage gar nicht mehr, was man vor sich hat, so viel, was auf dem Markt angeboten wird, ist fraglichen Ursprungs.«
»Und was ist das hier?«, fragte ich und blieb vor einer großen schwarzen Vase stehen. Sie war mit mindestens einem Dutzend rötlichen Figuren in dramatischer Positur dekoriert. Zwei bewaffnete Gruppen standen einander gegenüber, in der Mitte jeweils ein nackter Anführer.
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