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Von der Nacht verzaubert

Titel: Von der Nacht verzaubert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy Plum
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noch die Kraft aufbringen konnte. Als das Tor hinter mir ins Schloss fiel, rannte ich los.

 
    I ch schaffte es bis in mein Zimmer, ohne meinen Großeltern oder Georgia zu begegnen, und verschanzte mich dort. Die Zeit schien stillzustehen, als ich mich am Fußende meines Betts zusammenrollte. Ich fühlte mich hin- und hergerissen zwischen der Gewissheit, das Richtige getan zu haben, und dem nagenden Zweifel, in nur zehn Minuten alle meine Chancen, die ich jemals auf ein glückliches Leben haben würde, vertan zu haben. Eine Chance auf Liebe.
    Obwohl ich ihn noch nicht lange kannte, war ich mir sicher, dass ich mich über kurz oder lang so richtig in Vincent verlieben würde. Daran bestand kein Zweifel. Und wenn es schon so losging, wusste ich, dass dies nicht einfach nur eine belanglose Affäre werden könnte. Ich würde mein Herz verlieren. Voll und ganz. Das stand fest.
    Ich empfand so viel für ihn, dass es einfach zu schmerzhaft für mich wäre, wieder und wieder zu erleben, wie er verletzt wurde, starb oder sogar endgültig getötet wurde. Er hatte zugegeben, dass es möglich war. Selbst seine Unsterblichkeit kannte Grenzen. Nachdem ich bereits meine Eltern verloren hatte, weigerte ich mich, noch jemanden zu verlieren, den ich liebte.
    Mein altes Motto stand mir wieder vor Augen. »Lieber niemals lieben, als jemand Geliebtes verlieren.« Ich hatte das Richtige getan, versicherte ich mir. Aber wieso fühlte es sich dann an, als hätte ich den größten Fehler meines Lebens begangen?
    Ich wickelte mich fest in meine Decke und rutschte tiefer und tiefer in mein persönliches Jammertal. Ich ließ mich vom Schmerz aufsaugen, ich verdiente es nicht anders. Ich hätte mich gar nicht erst öffnen sollen.
    Ein paar Stunden später klopfte Mamie an die Tür, um mir zu sagen, dass das Essen fertig sei. Ich riss mich zusammen, damit man meiner Stimme nichts anmerkte, und rief: »Keinen Hunger, Mamie! Aber danke!« Kurz darauf ein zaghaftes Klopfen.
    »Dürfen wir reinkommen?«, drang Georgias Stimme durch das Holz. Ohne auf eine Antwort zu warten, schlichen meine Großmutter und Schwester vorsichtig zu mir ins Zimmer. Sie setzten sich rechts und links von mir hin, schlangen ihre Arme um mich und warteten.
    »Liegt’s an Mama und Papa?«, fragte Georgia schließlich.
    »Nein, ausnahmsweise liegt es mal nicht an Mama und Papa«, haspelte ich halb lachend, »zumindest nicht nur an Mama und Papa.«
    »Liegt’s an Vincent?«, fragte sie.
    Ich nickte.
    »Hat dieser Vincent«, ich spürte, wie Mamie und Georgia einen Blick über meinen Kopf hinweg wechselten, »dir irgendwie wehgetan?«, fragte Mamie und streichelte mir dabei tröstend über den Rücken.
    »Nein, nein. Es liegt an mir. Ich kann einfach nicht ...« Wie sollte ich ihnen das denn erklären? »Ich kann das einfach nicht zulassen. Wenn ich ihm zu nahekomme, riskiere ich zu viel.«
    »Ich weiß, was du meinst«, sagte Georgia mitfühlend. »Du hast Angst, dich zu verlieben. Weil du ihn dann auch verlieren könntest.«
    Ich legte meinen Kopf an Mamies Schulter und seufzte. »Das ist alles viel zu kompliziert.«
    Sie strich mir das Haar aus dem Gesicht und küsste mich auf die Stirn. Dann sagte sie leise: »Es ist immer kompliziert.«
    Ich kaufte mir einen Stapel englischsprachiger Romane in einem internationalen Buchladen, meldete mich fürs Wochenende bei Mamie ab und zog mich in meine Höhle zurück. Sie brachte mir ein Tablett mit Wasser, Tee, Obst, Crackern und verschiedenen Käsesorten und überließ mich dann mir selbst.
    Den Rest des Tages verbrachte ich in der Geschichte von jemand anderem. In den wenigen Momenten, in denen ich das Buch sinken ließ, meldete sich sofort dieser stechende Schmerz. Es fühlte sich an, als wäre ich die Zielscheibe eines Messerwerfers. Wenn es mir gelänge, meinen Verstand ganz still zu halten, würden die Messerklingen vielleicht neben mir einschlagen. Ab und zu schlief ich ein, doch sofort überfielen mich dunkle, qualvolle Träume, die sich gleich in Nichts auflösten, sobald ich die Augen aufschlug.
    Manchmal blickte ich über die Schulter und erwartete fast, Vincent in einer dunklen Ecke zu entdecken. Ob er wohl herkommt, wenn er volant ist, fragte ich mich. Er könnte jetzt gerade durch mein Zimmer schweben und ich würde es nicht mal merken. Vielleicht interessierte er sich aber auch gar nicht mehr für mich. Vielleicht lebte er nach dem Motto: »Aus den Augen, aus dem Sinn«. Vielleicht war mein Abgang wirksam genug

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