Von der Nacht verzaubert
Moment lang still. »Was genau hat Jean-Baptiste dir erzählt?«
»Dass Charles ein Messer nach seinem Porträt geworfen hat und dann verschwunden ist.«
»Das ist nur das Ende der Geschichte. Angefangen hat sie mit dem Bootsunfall, danach ist es immer schlimmer geworden.«
»Was ist denn passiert?«
»Am Tag nach dem Unfall, als sein Geist erwachte, bat er Charlotte, die Mutter zu finden, deren Tochter gestorben war. Er folgte ihr in volanter Form und badete sich in seinen Schuldgefühlen, weil es ihm nicht gelungen war, das Kind zu retten. Nachdem er aufgewacht war, schlich er ihr nach. Er legte ihr Geschenke vor die Haustür, brachte Unmengen an Blumen in das Bestattungsinstitut. Er war sogar bei der Beerdigung des Mädchens.«
»Wie unheimlich.«
Vincent nickte. »Charlotte fing an, sich Sorgen zu machen und erzählte Jean-Baptiste davon. Er knöpfte sich Charles vor und verbot ihm, die Frau wiederzusehen. Er ging so weit, damit zu drohen, die Zwillinge in eins seiner Landhäuser zu schicken, damit Charles durch die Entfernung wieder einen klaren Kopf bekommen konnte. Da ist Charles dann ausgeflippt. Er hat sich darüber aufgeregt, wie ungerecht die ganze Sache war. Dass er nicht für immer ein Revenant bleiben wolle, dass er sich nicht mehr für Menschen opfern wolle, die er gar nicht kannte, nur um dann zu riskieren, ins Exil geschickt zu werden, weil er sich danach für ihr Leben interessierte. Er warf Jean-Baptiste vor, dass er sich um ihn gekümmert hatte, nachdem er aufgewacht war und ihn nach dem tödlichen Schuss nicht einfach hatte sterben lassen, so, wie die Natur das eigentlich gewollt hatte. An der Stelle hat er dann das Messer geworfen.« »Wenigstens hat er es nicht nach Jean-Baptiste geworfen!«
»Das hätte den gleichen Effekt gehabt, JB hat die ganze Sache schwer getroffen. Charles ist aus dem Haus gestürmt und Charlotte hatte fast einen Nervenzusammenbruch.« Vincent machte eine Pause. »Wir sind uns sicher, dass er zurückkommt, sobald er sich beruhigt hat.«
»Er war aber doch schon vor dem Bootsunfall sehr unausgeglichen und reizbar«, sagte ich.
»Stimmt, ihn hat von Anfang an die Frage nach dem Sinn unserer Existenz am meisten geplagt. Damit will ich jetzt nicht sagen, dass ich mir nicht auch Gedanken darüber gemacht habe. Aber ihm fällt es irgendwie sehr schwer, das alles zu akzeptieren.«
Das erklärt natürlich einiges , dachte ich und hatte sogar ein kleines bisschen Mitleid mit Charles.
»Wann ist er denn verschwunden?«
»Vor zwei Tagen.«
»Vor zwei Tagen hab ich ihn gesehen«, sagte ich. »Freitag, kurz nach Mitternacht.
»Das hat Jean-Baptiste mir erzählt. Soso ... du warst also ohne mich aus?« Er lächelte mich gespielt herausfordernd an. Mir war klar, dass er das Thema wechselte, um die Stimmung zu heben.
»Ich wollte mir die Sorgen wegtanzen.«
»Es hat nicht geklappt?«
»Nein.«
»Vielleicht hätte es ja funktioniert, wenn ich da gewesen wäre?«, fragte er blasiert. »Wollen wir mal zusammen tanzen gehen?«
»Ähm, ich weiß nicht. Ich hab noch nie einen Toten tanzen sehen. Meinst du, du kannst mit mir Schritt halten?«, scherzte ich. Anstelle einer Antwort griff Vincent nach meinen Schultern und presste schließlich seine Lippen mit Nachdruck auf meine.
Alles um mich herum versank, meine Sinne konzentrierten sich nur auf den Punkt, an dem wir uns berührten. Dann löste er sich von mir. Mir schlug das Herz bis zum Hals, als hätte der Kuss es aus der Brust dorthin katapultiert.
»Ich deute das mal als ein Ja«, keuchte ich.
»Du hast mir gefehlt«, sagte er und neigte sich erneut zu mir.
»Es ist schon spät, ich sollte dich nach Hause bringen«, sagte Vincent, nachdem wir ein paar Stunden lang auf seiner Couch gekuschelt hatten und ich ihm von den Nichtereignissen meiner letzten Wochen erzählt hatte.
»Stell dir vor, ich habe die hochoffizielle Erlaubnis von Mamie, heute Nacht bei dir zu bleiben. Sofern es so lange dauert, bis wir uns versöhnt haben.« Mein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen.
»Wie bitte?« Seine Miene deutete darauf hin, dass es mir endlich auch mal gelungen war, ihn zu überraschen. »Deine Großmutter ist auf meiner Seite? Hören die Wunder denn nie auf?«
»Ich bin mir nicht so sicher, ob sie wirklich auf deiner Seite ist, vermutlich eher auf meiner. Oder auf ihrer. Sie will wahrscheinlich einfach verhindern, dass ich unter ihrem Dach vor Kummer eingehe.«
Vincent lachte. »Dann wollen wir mal Mamies Vertrauen
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