Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte
mehr als genug.
Ich denke, wer sein Lebenstempo nachhaltig verändern möchte, muss eine große Portion Geduld mitbringen, vor allem Geduld mit sich selbst. Wir müssen nicht alles im Handumdrehen erreichen und schon gar nicht jederlei Erfahrung der Welt machen. Manches kann der Einzelne für sich getrost ganz aufgeben. Er wird es nie erreichen.
Schrats Geheimrezept lautet: »Auf Durchzug schalten«. Wem es gelingt, erfolgreich auf Durchzug zu schalten, meint er, wird nicht von der allgemeinen Hektik ergriffen. Mich quält dieser Begriff, weil ich genau das nicht kann. Wie soll ich auf Durchzug schalten, wenn ich gleichzeitig die Flötenstunde meiner Tochter, die Abfahrtszeit meines Zuges und den Abgabetermin meines nächsten Manuskriptes im Kopf behalten muss, nebst allen Vorbereitungen, zusätzlichen Wegen und Besorgungen, die solche Termine kosten? Wenn ich darauf nicht mehr achte, würden meine Kinder nur noch in zerrissenen Unterhosen herumlaufen und von Fast-Food und Pizza leben.
Aber im Grunde hat Schrat nicht unrecht. Wir kommen gegen den Druck nur an, wenn wir innerlich abschalten. Ich bemühe mich neuerdings, hin und wieder unpünktlich |185| zu sein, erlaube mir Vergesslichkeit und sage jeden Tag mindestens einmal »Nein«. Gestern habe ich »Nein« gesagt, als sich Freunde von uns ansagten und drei Tage in meiner Arbeitswohnung übernachten wollten. Schon nächstes Wochenende logieren dort Gäste. Heute sage ich sanft »Nein« zu Murkel, der mich gebeten hat, in die Schule zu kommen und sich die Hütte anzuschauen, die er mit seinen Freunden auf dem Schulhof gebaut hat. So schwer es mir fällt, das wird mir heute zu viel. Ich werde sie mir morgen anschauen (und hoffe inständig, dass sie bis dahin nicht zusammengefallen ist). Denn mit extremer Ernsthaftigkeit sind nicht nur Ehrgeiz, sondern auch Angst und Sorge verbunden: Angst, zu versagen, Angst, nicht schnell genug zu sein, Angst, den Anforderungen nicht zu genügen. Und Angst macht auf die Dauer krank.
Andächtig schäle ich mittags die Schwarzwurzeln, die uns die
Märkische Kiste
ins Haus gebracht hat. Bislang hatte ich dieses Gemüse nur fertig zubereitet auf dem Teller oder in weißlich-lascher Gestalt in der trüben Flüssigkeit einer Konserve herumschwimmen sehen. Jetzt wusste ich endlich, woher es seinen Namen hat. Tiefschwarz ist die Schale, von der die weißen, festen Stangen umgeben sind. Erst mit Hilfe des Internets konnte ich sie identifizieren. Dort hatte ich mir auch ein paar Tipps besorgt, wie man die Wurzel am besten zubereitet. Essig oder Zitrone sollte ich ins Kochwasser tun, das sei gut für das Aroma. Außerdem verhindere es, dass sich das Gemüse während der Zubereitung verfärbt. Nachdem ich mit dem Schälen fertig war, hatte ich allerdings noch ein weiteres Problem. Meine Hände und das Schälmesser waren überzogen von einem hässlich klebrigen Saft. Ich versuchte, die Finger unter fließendem Wasser zu reinigen, |186| nahm gewöhnliche Seife zu Hilfe, schließlich Gallseife, dann sogar Spülmittel, aber es war aussichtslos. Wie alter Kaugummi haftete das schmutzig-schwarze Zeug an meinen Fingern. Ich konnte nichts mehr anfassen, geschweige denn weiterarbeiten. Es war zum Verrücktwerden!
Zum Glück stand mein Laptop aufgeklappt auf dem Küchentisch, und das Programm mit der Infoseite war noch offen. Ich nahm einen Bleistift zwischen die Zähne und versuchte damit eine der Tasten zu erwischen, damit der Bildschirmschoner verschwindet. Endlich hatte ich Erfolg. Mit Hilfe des Stiftes drückte ich die Scroll-Taste und arbeitete mich langsam zum Ende der Seite hinunter. Da stand es: »Vorsicht! Schwarzwurzeln sondern einen dicken, klebrigen Saft ab. Bei der Verarbeitung ist dringend das Tragen von Handschuhen zu empfehlen.«
Frustriert tippte ich mit dem Bleistift zwischen den Lippen auf der Tastatur herum. Zum Glück fand ich noch eine weitere Stelle. Hier gab es Vorschläge dazu, wie man sich und sein Werkzeug anschließend reinigen konnte. Öl wurde dazu empfohlen, ganz gewöhnliches Speiseöl aus Sonnenblumen oder Disteln. Ich angelte mir also mit meinen klebrigen Fingern Papiertücher und die Ölflasche aus dem Regal und säuberte mich sorgfältig. Es funktionierte hervorragend. Der Saft ließ sich mühelos entfernen.
Inzwischen hatte das Kochwasser angefangen zu sieden. Ich warf die fertig zugeschnittenen Wurzelstücke hinein und setzte wieder den Deckel darauf. Später aß ich das Gemüse mit Butter und Salz und war
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