Von Kamen nach Corleone
Sherlock Holmes und Watson oder Hercule Poirot und Captain Hastings. Wenn es nötig ist, treffen sie sich auch nachts, etwa um nachzuforschen, wo der letzte Kronzeuge Bomben gelegt hat. Beide sind Sizilianer. Beide sind bei der Antimafiaorganisation »Libera« engagiert. Womit sie sich in einer Stadt wie Vibo Valentia wenig Freunde machten. Umso mehr, als sich dieses Engagement bei Don Tonino keineswegs auf Sonntagsreden beschränkt. Das mag an einer anderen Besonderheit liegen: Don Toninos Vater war Polizist im mobilen Einsatzkommando Palermos. Weshalb Don Tonino zwar an die göttliche Gerechtigkeit glaubt, im Zweifel aber dafür sorgt, dass der irdischen Vorrang eingeräumt wird. Dafür greift er gelegentlich auch zu unkonventionellen Methoden. Etwa wenn er mit Sturmhaube auf dem Kopf nachts den Ort zu finden versucht,an dem ein Container mit Wasserversorgung und Klimaanlage vergraben wurde – das übliche Versteck für flüchtige Bosse. Und in dem Don Tonino ein Waffen- und Munitionslager der ’Ndrangheta entdeckt.
Von seinem Vater hat er auch schießen gelernt. Einmal, es war an einem Feiertag, ganz Vibo drängte sich zwischen den Jahrmarktsbuden und kaufte Luftballons und gebrannte Mandeln, gefälschte Bohrmaschinen und Herrensocken, als Don Tonino mit einigen Ministranten die Kirche verließ. Er hörte das Lachen einer Gruppe von ’Ndranghetisti, die umso lauter lachten, je näher der Priester kam. Da entschloss er sich, mit seinen Ministranten zum Schießbudenstand zu gehen. Wo er mit einer Kugel zwei Dosen schoss. Und spürte, wie es hinter ihm still wurde. Ein Boss fragte ihn: »Predigen Sie auch so, wie Sie schießen?«
»Schießen ist für mich ein Spiel, Predigen eine Pflicht«, sagte Don Tonino kühl.
Der Don und die Anwältin begleiteten mich zu dem Mann, mit dem für sie alles angefangen hat: Der Optiker Nello Ruello war der Erste, der in Vibo Valentia die Bosse angezeigt hat, die von ihm Schutzgeld erpressten – und die zu dem Clan Lo Bianco gehörten. Giovanna Fronte war seine Anwältin. Sie sorgte dafür, dass er in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen wurde und dass ihm ein staatlicher Kredit gewährt wurde. Und dass eine Bank gefunden wurde, die bereit war, ihm diesen Kredit auszuzahlen.
Wir betraten sein Geschäft, es war erst wenige Monate zuvor eröffnet worden. Giovanna stellte mir den Optiker vor, ein hochgewachsener, schüchtern wirkender Mann, in dessen Stimme immer noch die Verwunderung darüber mitschwang, nicht aus Verzweiflung Selbstmord begangen, sondern gekämpft zu haben.
In den Auslagen lagen Armani-Brillen und die neuesten Gucci-Modelle, tropfenförmige RayBan als Sonderangebote für den Sommer, daneben waren Fotoapparate ausgestellt und Bilderrahmen. Zwischen den Regalen standen zwei Männer in Safarijacken. Denn der Optiker verkauft seine Brillen bis heute unter Polizeischutz.
An der Wand hing ein Foto, das die Einweihung des Geschäftes zeigte, in Gegenwart von Polizisten, Carabinieri, Staatsanwälten und des nationalen Antimafiaermittlers Pietro Grasso. Alle trugen eine gelbe Gerbera in der Hand. Sie ist in Kalabrien das Symbol für den Kampf gegen die ’Ndrangheta. Auch der Optiker Nello Ruello hielt eine gelbe Gerbera in der Hand, ihr Stiel war mit dünnem Draht umwickelt. Ob es Zufall war, dass die Gerbera zum Antimafiasymbol ausgewählt wurde? Eine Blume, die ohne künstlichen Halt umknickt?
Ich überschreite jede Geschwindigkeitsbegrenzung. In der Hoffnung, dass die Blitzanlagen sich in dem gleichen desolaten Zustand wie die Autobahn befinden. Außerdem hoffe ich darauf, dass die internationale Strafverfolgung von Temposündern noch nicht ganz ausgereift ist. Und so erreiche ich Lamezia Terme schneller, als es Google Maps sich vorstellen kann.
Leider ist es schon dunkel, als ich ankomme, die Palmen rechts und links der Straße lassen sich nur ahnen, es sind Washingtonia robusta, wie ich mit von der Baronessa geschärftem Blick erkenne. Daneben stehen Orangenbäume, deren Früchte im Dunkeln leuchten. Das Hotel liegt etwas erhöht auf einem Hügel, ich kenne seinen Ausblick auf das goldgleißende Meer, da, wo jetzt nur schwarze Nacht ist. Aber ohne den Ausblick bleibt nichts anderes als ein Zimmer mit einem neunzig Zentimeter breiten Bett, senffarbenem Teppichboden und Neonlicht im Badezimmer.
In der Kanzlei eines Rechtsanwalts in Lamezia Terme erwartet mich eine Mutter, die glücklich darüber ist, endlich den Knochen ihres von der Mafia ermordeten Sohnes
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