Von Natur aus kreativ
ein Leckerli zu kommen, wurden interessanterweise dieselben Hirnareale aktiviert, wie wenn er mit den Pfoten danach griff. Das Stöckchen wurde also zum erweiterten „Selbst“.
Dieses erweiterte Selbst aber wird wieder auf uns alleine eingeschränkt, wenn wir nur einen leeren, austauschbaren Büroraum zugewiesen bekommen. Um uns dort heimisch zu fühlen und dort anzuknüpfen, wo wir am Tag zuvor die Arbeit unterbrochen haben, brauchen wir in diesem fremden Raum erst einmal eine Anlaufzeit. Der Büroraum ist zunächst anonym, wir blicken auf ihn als etwas, was außerhalb unserer selbst ist, mit dem wir uns aber nicht identifizieren. Will man also erreichen, dass sich jemand mit seiner Arbeit identifiziert, sollte man ihm eine Ausweitung der Innenperspektive ermöglichen. Dies gilt für Büroräume, aber auch für entindividualisierte enge Arbeitsplätze wie in einer Fabrik oder auf einem Schiff. Dort wird der eigene Spind zum kleinen Wohnzimmer, zum Hort der Individualität.
Kreativität gedeiht aber nicht nur an einem individuellen Ort, sondern auch an öffentlichen Plätzen. Ein besonders plakatives Beispiel dafür, dass man kreativ sein kann, wenn Menschen um einen herum sind und man von einem permanenten Geräuschteppich umgeben ist, ist der Erfolg der Autorin Joanne K. Rowling. Als alleinerziehende Mutter einer kleinen Tochter lebte sievon Sozialhilfe, als sie am ersten Band von „Harry Potter“ arbeitete. „So machte ich mich in einem regelrechten Rausch an die Arbeit, weil ich unbedingt das Buch beenden und zumindest versuchen wollte, es veröffentlichen zu lassen. Wenn Jessica in ihrem Kinderwagen einschlief, eilte ich stehenden Fußes ins nächste Café und schrieb dort wie eine Wahnsinnige.“ (Nachzulesen in der Biografie auf ihre Website. Auch in einem Interview gab sie einmal bekannt, ihr liebster Schreibort sei das Café Nicholson’s in Edinburgh.)
Ein öffentlicher Platz als liebster Ort zum Schreiben? Ein Café als Ort der Kreativität? Ja, denn auch die Isolation, das Abschotten von sinnlichen Eindrücken, lässt kreative Potenziale ungenutzt. Das Gehirn braucht Anregungen von außen zur Förderung der Kreativität. „Trigger“ wie Geruch, Gehörtes und Alltagsszenen sind geeignet, um Erinnerungen wachzurufen und neue Ideen anzuregen. Untersuchungen haben gezeigt: Der Blick auf eine belebte Straße lässt die Gedanken leichter fließen als der Blick ins Grüne. Denn das Straßenleben wirkt belebend, das Grüne beruhigend. Man benötigt zum Denken ein erhöhtes Aktivierungspotenzial des Gehirns. Dafür ist das Arbeiten im Cafe optimal. Man kann sich zugehörig fühlen, ist Sinneseindrücken ausgesetzt und wird dennoch nicht gestört. Die Umgebung von anderen Menschen beinhaltet außerdem eine psychische Komponente. Beim Schreiben im Café wie bei Rowling, aber auch beim Arbeiten im ICE stellt sich das Gefühl ein, dass andere im Fall des Falles da seien und man sich mitten in einem sozialen Netz befinde. Und gleichzeitig kann man sich abschotten, denn die unbekannten Menschen in der direkten Umgebung treten nicht als Individuen in Erscheinung und kommunizieren nicht direkt mit einem, sie stören also nicht. – Der Mensch lebt von Paradoxien.
Austausch und Durchlässigkeit – das ist ein naturgegebenes Prinzip von Kreativität und in der Natur zu beobachten. So sind etwa die Wände einer lebendigen Zelle ebenfalls nicht starr und schließen die Welt draußen nicht vollkommen von der Welt im Zellinnern ab. Sie sind semipermeabel: Sinnvolle Stoffe werden hineingelassen, andere nicht. Dies ist die Funktionsweise der Osmose, ein Vorgang, der für viele regulative Abläufe in der Natur von Bedeutung ist.
Auch in vielen Büros findet Osmose statt, nämlich dann, wenn die Zimmertüren geöffnet bleiben, zumindest temporär. Gespräche finden dann nicht im Refugium des einen oder des anderen statt, sondern entstehen im Türrahmen. Will man die Interaktion mit anderen fördern, sodass sich kreative Prozesse entfalten können, spielt auch die Gestaltung der Räume oder eines Gebäudes eine maßgebliche Rolle. Bereits ein anderes Stockwerk hindert daran, mit anderen in einen kreativen Kontakt zu treten. Kreativität findet in einem Radius von etwa 50 Metern statt, und dies auf einer einzigen räumlichen Ebene. Eine gelungene Architektur, die Kreativität anregt, muss also von der Innenperspektive des Menschen ausgehen und gleichzeitig den „osmotischen“ Kontakt zu anderen ermöglichen.
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