Von Natur aus kreativ
verspricht es. Man sollte sich aber keine Ziele wie das Glück, das Paradies oder die Liebe vorgeben, weil diese so nicht zu erreichen sind – und weil häufig über sie vergessen wird, was im Augenblick zählt. Denn oft erkennen wir erst im Nachhinein, dass etwas gut war, dass wir glücklich waren. Und dass der Weg, den wir eingeschlagen haben, uns dorthin führen würde, das hätten wir in vielen Fällen nicht gedacht. Wer aber sagt: „Jetzt bin ich glücklich“, der riskiert bereits mit diesem Satz, den zauberhaften Moment vorbeiziehen zu lassen. Wer das Paradies auf Erden will, muss immer die Wünsche anderer übergehen, denn jeder hat sein eigenes Bild paradiesischer Utopien, weshalb diese oft genug mit Gewalt durchgesetzt werden wollten. Wer immerwährende Liebe fordert, überfordert den anderen, und der Wille zur Liebe wird zur Freiheitsberaubung.
Liebe und Glück sind hehre Ziele, die nur die wenigsten erreichen. Aber zum Glück wurden uns Menschen andere Hilfsmittel mitgegeben, ein gelingendes Leben zu führen. Was uns vor allem anderen ausmacht, ist das Prinzip der Homöostase: der Drang, die eigene Mitte zu entdecken, das Gleichgewicht zwischen extremen Gefühlszuständen zu finden, eine Balance zwischen zu viel Energie und lähmender Tatenlosigkeit zu halten. Das schaffen wir nur dank einer Kreativität, die jedem von uns biologisch mitgegeben ist, auch wenn sie manchmal verschüttet ist.
Was ist diese Homöostase, die hier so wichtig wird? Der Begriff aus der Medizin meint das Gleichgewicht der physiologischen Körperfunktionen und die Stabilität des Verhältnisses von Blutdruck, Körpertemperatur, pH-Wert des Blutes und Ähnlichem. Wie wir unten noch genauer erläutern werden, gehen wir davon aus, dass die Natur eine Einheit bildet, dass Biologie und soziokulturelle Lebenswelt miteinander verbunden sind. Den Begriff der Homöostase verwenden wir deshalb für ein allgemeines Lebensprinzip. Unsere Kreativität besteht nun darin, in Extremzuständen Lösungen zu finden, um die Homöostase wieder zu erreichen.
Wir sind von Natur aus kreativ, doch müssen wir auch den Mut haben, unsere Kreativität zu nutzen, sie einzusetzen. Sapere aude – „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, so schreibt Immanuel Kant 1784 in seinem berühmten Aufsatz „Was ist Aufklärung?“. Ebenso gilt: Habe Mut, deiner Kreativität zu vertrauen, und habe Mut, zu handeln – agere aude.
Icking. Ein kleines bayerisches Dorf südlich von München. Die „Nackerten“ aus der Berliner Kommune I haben hier Zuflucht gesucht, ebenso der Schauspieler Gert Fröbe. Und Rainer Maria Rilke hat hier gewohnt, im Haus Schönblick in der Irschenhausener Straße 87, von 1911 bis 1915. Die wenigen Menschen, die Icking kennen, ahnen vielleicht, dass Rilke die folgenden Zeilen mit Blick auf die wunderbare Alpensilhouette am Horizont gedichtet hat:
Berge ruhn, von Sternen überprächtigt; –
aber auch in ihnen flimmert Zeit.
Ach, in meinem wilden Herzen nächtigt
obdachlos die Unvergänglichkeit.
Wir, die beiden Autoren, sitzen im Rittergütl im Ickinger Ortsteil Irschenhausen, wo auch Rilke oft hingegangen ist. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir ein Molekül Sauerstoff einatmen, das Rilke vor etwa 100 Jahren hier sitzend ausgeatmet hat? Es sind weit über 90 Prozent. So ist man über die Zeiten hinweg durch die Luft und das Atmen miteinander verbunden. Auch eine Form von „Unvergänglichkeit“. Mutter Natur – oder wen immer man für die Schöpfung verantwortlich machen will – hat seit jeher für Unvergänglichkeit gesorgt.
Dies ist das Thema unseres Buches: Kreativität und Leben gehören zusammen. Von der Ursuppe, wo inmitten rein chemischer Prozesse Leben entstand,durch die gesamte Evolutionsgeschichte hindurch bis in unsere Gegenwart. Von den Einzellern bis zur angeblichen Krone der Schöpfung, von den Stammesgesellschaften bis zur heutigen Hochzivilisation.
„Jeder Mensch ist kreativ!“ Es war eine Sensation, als Joy Paul Guilford, Präsident der American Psychological Association, dies 1949 in seiner Antrittsrede sagte. Als kreativ hatte man bis dahin nur die herausragenden Persönlichkeiten der Geschichte bezeichnet. Doch das Leben an sich ist kreativ, und jeder einzelne Mensch ist es auch. Und was sind Merkmale einer kreativen Person, die für jeden gelten oder zumindest gelten können, wenn man gleichsam rauslässt, was in einem steckt? Natürlich Neugier und eine Sensitivität für
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