von Schirach
dort, nackt und im Schlamm, nass von Sperma, nass von Urin,
nass von Blut. Sie konnte nicht sprechen, und sie rührte sich nicht. Zwei Rippen,
der linke Arm und die Nase waren gebrochen, die Scherben der Gläser und
Bierflaschen hatten Rücken und Arme aufgeschnitten. Als die Männer fertig
gewesen waren, hatten sie ein Brett angehoben und sie unter die Bühne
geworfen. Sie hatten auf sie uriniert, als sie dort unten lag. Dann waren sie
wieder nach vorne gegangen. Sie spielten eine Polka, als die Polizisten das
Mädchen aus dem Matsch zogen.
»Verteidigung ist Kampf, Kampf um
die Rechte des Beschuldigten.« Der Satz stand in dem kleinen Buch mit rotem
Plastikumschlag, das ich damals immer mit mir herumtrug. Es war das
»Taschenbuch des Strafverteidigers«. Ich hatte gerade mein zweites Examen
gemacht und war vor ein paar Wochen zur Anwaltschaft zugelassen worden. Ich
glaubte an den Satz. Ich dachte, ich wüsste, was er bedeutet.
Ein Studienfreund rief an und
fragte, ob ich bei einer Verteidigung mitwirken wolle, man brauche noch zwei
Anwälte. Natürlich wollte ich, es war ein erster großer Fall, die Zeitungen
waren voll davon, und ich glaubte, das sei mein neues Leben.
In einem Strafverfahren muss niemand
seine Unschuld beweisen. Niemand muss reden, um sich zu verteidigen, nur der
Ankläger muss Beweise vorlegen. Und das war auch unsere Strategie: Alle sollten
einfach schweigen. Mehr mussten wir nicht tun.
Die DNA-Analyse war noch nicht lange
vor den Gerichten zugelassen. Die Polizisten hatten die Kleidung des Mädchens
im Krankenhaus gesichert und in einen blauen Müllsack gestopft. Sie legten ihn
in den Kofferraum des Dienstwagens, er sollte zur Gerichtsmedizin gebracht
werden. Sie glaubten, alles richtig zu machen. Der Wagen stand in der Sonne,
Stunde um Stunde, und in der Hitze wuchsen Pilze und Bakterien unter der
Plastikfolie, sie veränderten die DNA-Spuren, und niemand konnte sie mehr auswerten.
Die Ärzte retteten das Mädchen und
zerstörten die letzten Beweise. Sie lag auf dem OP-Tisch, ihre Haut wurde
gereinigt. Die Spuren der Täter in ihrer Vagina, in ihrem After und auf ihrem
Körper wurden abgewischt, niemand dachte an etwas anderes als die
Notversorgung. Viel später versuchten die Polizisten und der Gerichtsmediziner
aus der Hauptstadt, den Abfall aus dem OP zu finden. Irgendwann gaben sie auf,
sie saßen um drei Uhr morgens in der Kantine des Krankenhauses vor hellbraunen
Tassen mit kaltem Filterkaffee, sie waren müde und hatten keine Erklärung. Eine
Krankenschwester sagte, sie sollten nach Hause gehen.
Die junge Frau konnte die Täter
nicht nennen, sie konnte die Männer nicht auseinanderhalten; unter Schminke und
Perücken hatten alle gleich ausgesehen. Bei der Gegenüberstellung wollte sie
nicht hinsehen, und als sie sich doch überwand, konnte sie keinen erkennen.
Niemand wusste, welcher der Männer bei der Polizei angerufen hatte, aber es war
klar, dass es einer von ihnen gewesen war. Für jeden Einzelnen musste deshalb
gelten, dass er der Anrufer sein konnte. Acht waren schuldig, aber jeder
konnte auch der eine Unschuldige sein.
Er war mager. Kantiges Gesicht,
Goldbrille, vorspringendes Kinn. Damals war das Rauchen in den Besucherzellen
der Haftanstalten noch erlaubt, er rauchte unzählige Zigaretten. Während er
sprach, bildete sich Speichel in seinen Mundwinkeln, die er mit einem
Taschentuch auswischte. Er war schon zehn Tage in Haft, als ich ihn das erste
Mal sah. Für mich war die Situation so neu wie für ihn, ich erklärte ihm zu
ausführlich seine Rechte und das Verhältnis zwischen Mandant und Anwalt,
Lehrbuchwissen aus Unsicherheit. Er erzählte von seiner Frau und den beiden
Kindern, von seiner Arbeit und endlich vom Volksfest. Er sagte, es sei zu heiß
gewesen an diesem Tag und dass sie zu viel getrunken hätten. Er wisse nicht,
warum das geschehen sei. Das war alles, was er sagte - es sei zu heiß gewesen.
Ich habe ihn nie gefragt, ob er mitgemacht hatte, ich wollte es nicht wissen.
Die Anwälte übernachteten in dem
Hotel am Marktplatz der Stadt. In der Wirtsstube diskutierten wir die Akte. Es
gab Fotos von der jungen Frau, von ihrem geschundenen Körper, ihrem geschwollenen
Gesicht. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Ihre Aussagen waren wirr, sie
ergaben kein Bild, und auf jeder Seite der Akte konnte man die Wut spüren, die
Wut der Polizisten, die Wut des Staatsanwalts und die Wut der Ärzte. Es nutzte
nichts.
Mitten in der Nacht
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