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von Schirach

von Schirach

Titel: von Schirach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schuld
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einmal Witze über ihn. Er war einer von
denen, die man später auf Klassentreffen nicht erkennen würde. Henry fand einen
Freund, ein Junge aus seinem Zimmer, der las Fantasyromane und hatte nasse
Hände. Sie saßen im Speisesaal an dem Tisch, der das Essen zuletzt bekam, und
bei Klassenausflügen blieben sie unter sich. Sie kamen durch, aber wenn Henry
nachts wach lag, wollte er, dass es mehr für ihn gab.
    Er war ein mittelmäßiger Schüler.
Auch wenn er sich anstrengte, änderte sich nichts. Mit vierzehn bekam er Akne,
und alles wurde schlimmer. Die Mädchen, die er in seiner Kleinstadt in den
Ferien traf, wollten nichts mit ihm zu tun haben. Wenn sie im Sommer mit den
Fahrrädern am Nachmittag zum Baggersee fuhren, musste er das Eis und die
Getränke bezahlen, damit er bei ihnen sitzen durfte. Um es sich leisten zu
können, stahl er Geld aus dem Portemonnaie seiner Mutter. Die Mädchen küssten
trotzdem andere, ihm blieben nachts nur die Bilder, die er heimlich von ihnen
machte.
     
    Nur einmal war es anders, sie war
die Hübscheste aus der Clique. Es war in den Sommerferien, er war gerade
fünfzehn geworden. Sie hatte ihm gesagt, er solle mitkommen, sie hatte es
einfach so gesagt. Er war ihr in die enge Umkleidekabine gefolgt, ein
Holzschuppen am See ohne Fenster; Gerumpel und eine schmale Bank. Sie hatte
sich vor ihm im Halbdunkeln ausgezogen und ihm gesagt, er solle sich setzen
und seine Hose öffnen. Das Licht zwischen den Brettern teilte ihren Körper, er
sah nur ihren Mund, ihre Brüste, ihre Scham, er sah den Staub in der Luft und
roch die alten Luftmatratzen unter der Bank, und er hörte die anderen am See.
Sie kniete sich vor ihn und fasste ihn an, ihre Hände waren kalt, das Licht
fiel auf ihren Mund, auf ihre Zähne, die zu weiß waren. Er spürte ihren Atem
vor seinem Gesicht, und plötzlich hatte er Angst. Er schwitzte in dem dunklen
Raum, er starrte auf ihre Hand, die seinen Penis umfasste, die Adern auf ihrem
Handrücken. Ihm fiel ein Abschnitt aus dem Biologiebuch ein, »die Finger einer
Hand öffnen und schließen sich im Laufe eines Lebens 22 Millionen Mal«, hatte
dort gestanden. Er wollte ihre Brüste berühren, aber er traute sich nicht.
Dann bekam er einen Krampf in der Wade, und als er kam, sagte er, weil er etwas
sagen musste: »Ich liebe dich.« Sie stand schnell auf und wandte sich ab, sein
Bauch war vom Sperma verklebt, sie zog ihren Bikini wieder an, hastig und
gebückt, sie öffnete die Tür und drehte sich im Rahmen zu ihm um. Er konnte
jetzt ihre Augen sehen, Mitleid und Ekel und etwas anderes, was er noch nicht
kannte. Dann sagte sie leise: »Tut mir leid« und schmiss die Tür zu, sie rannte
zu den anderen, sie war verschwunden. Er saß noch lange im Dunkeln. Als sie
sich am nächsten Morgen trafen, stand sie zwischen ihren Freundinnen. Sie sagte
laut, sodass alle es hörten, er solle nicht so blöd schauen, sie habe doch nur
eine Wette verloren, und »das gestern« sei der Einsatz gewesen. Und weil er
jung und verwundbar war, wurde die Unwucht größer.
     
    In der neunten Klasse kam eine neue
Lehrerin ins Internat, sie unterrichtete Kunst, und plötzlich veränderte sich
Henrys Leben. Bis dahin war ihm die Schule gleichgültig gewesen, er hätte gerne
etwas anderes gemacht. Einmal in den Ferien hatte er in der Schraubenfabrik zu
Hause ein Praktikum gemacht, dort wäre er gerne geblieben. Ihm gefiel der
geregelte Ablauf der Dinge, der immer gleiche Rhythmus der Maschinen, die immer
gleichen Gespräche in der Kantine. Er mochte den Meister, dem er zugeteilt war
und der seine Fragen einsilbig beantwortete.
    Mit der neuen Lehrerin wurde alles
anders. Henry hatte sich bis dahin nie für Kunst interessiert. In seinem
Elternhaus hingen einige Zeichnungen, schnell gemachte Blätter für Touristen,
die sein Vater auf der Hochzeitsreise bei fliegenden Händlern in Paris gekauft
hatte. Das einzige Original stammte von Henrys Großvater und hing in seinem
Kinderzimmer über dem Bett. Es zeigte eine Sommerlandschaft in Ostpreußen, er
spürte die Hitze und die Einsamkeit, und Henry wusste mit einer Sicherheit, die
er eigentlich nicht haben konnte, dass es ein gutes Bild war. Im Internat
hatte er für den Freund Figuren aus dessen Fantasyromanen gezeichnet, Szenen
von Zwergen, von Orks und von Elfen, und Henry zeichnete sie so, dass alles
lebendiger als die Sprache in den Büchern war.
    Die Lehrerin war fast 65 Jahre alt
und stammte aus dem Elsass, sie trug schwarz-weiße Kostüme. Ihre

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