Von Zwanzig bis Dreißig
sich vorweg vorzustellen, wie wohl eine von ihm durchlebte Sache auf mich wirken würde, und noch wenige Jahre vor seinem Tode, als er mal wieder etwas ganz Lepelsches inszeniert hatte, sprach er mir, als sich der Erzählungsmoment für ihn einstellte, dies mit einem besonders liebenswürdigen Behagen aus. Er war auf – sagen wir – Donnerstag, den neunzehnten Juni, zu einer Hochzeit geladen worden, und zwar nach Warmbrunn hin, wo sich ein Verwandter von ihm mit einer jungen Amerikanerin verheiraten wollte. Nie groß in festem Sich-Einprägen von Zahlen und überhaupt etwas unpünktlich, traf er – weil er nur »Donnerstag« behalten hatte – statt am neunzehnten Juni schon am zwölften mit dem Frühzuge in Warmbrunn ein, stieg im Preußischen Hof ab, warf sich in Frack und erschien in dem gemutmaßten Hochzeitshause. Hier erfuhr er dann freilich, daß er um eine Woche zu früh gekommen sei, weshalb er, unter Entschuldigungen, am selben Tage wieder abreiste, fest entschlossen, das nächste Mal besser aufzupassen. Das geschah denn auch, und rechtzeitig traf er am folgenden Donnerstag früh wieder im Preußischen Hof zu Warmbrunn ein. Er hatte noch zwei Stunden bis zur Trauung, und weil ihm der Wirt gefiel, den er schon das vorige Mal als einen angenehmen und plauderhaften Mann kennengelernt hatte, so blieb er unten im Gastzimmer und hatte da, was er sehr liebte, einen eingängigen Diskurs über deutsche Hotels in der Schweiz und in Italien. Der Besitzer des Hotels war vordem jahrelang Küchenchef in Venedig gewesen, was natürlich hundert Anknüpfungspunkte gab. Und dabei kam man auch auf Asti-Wein zu sprechen, und als Lepel hörte, daß der Wirt etwas davon in seinem Keller habe, bat er darum, und unter Plaudern behaglich sein zweites Frühstück nehmend, verging die Zeit. Zuletzt aber wurde der Wirt doch unruhig und sagte: »Ja, Herr Major, so schwer es mir wird ... aber ich glaube beinahe, es ist die höchste Zeit. Sie haben nur noch eine Viertelstunde.« Lepel sprang nun auf und ging auf sein Zimmer, um da im Fluge Toilette zu machen. Aber das Versäumte war doch durch keine Flinkheit wieder einzubringen, und als er aufs neue bei dem Wirt unten erschien, erfuhr er, daß der Zug schon geraume Zeit nach der Kirche sei ... »Gut, gut, dann werd' ich direkt in die Kirche gehen.« Und das geschah denn auch. Als er eintrat, schien ihm in der Tat noch nichts versäumt oder doch nur sehr wenig; sie sangen noch, und die Orgel spielte leise. »Gott sei Dank,« sagte Lepel vor sich hin, »sie singen erst.« Und unter dieser Trostbetrachtung war er bis an den Altar gekommen, wo er links, in unmittelbarer Nähe des Brautpaares, einen leeren Stuhl entdeckte, mit einem Singzettel darauf. Er wußte, daß das sein Platz sein mußte, und ließ sich unter leiser Verbeugung neben dem Bräutigam nieder. Dieser, der seinen Anverwandten schon kannte, lächelte nur still vor sich hin und wies dann auf die Stelle, bis zu der die Singenden eben gekommen waren. Es war die vorletzte Zeile des Schlußverses. Einen Augenblick danach war die Zeremonie vorüber, und alles erhob sich. Lepel, das erstemal um eine Woche zu früh, war das zweitemal um eine Stunde zu spät gekommen. Als er wieder in Berlin war, kam er zu mir und sagte: »Ja, Fontane, ich habe mich eigentlich blamiert, aber ich kann es kaum bedauern, denn ich habe mich auf dem ganzen Rückwege daran aufgerichtet, wie das wohl auf dich wirken und dich erheitern würde.«
Lepel trat sehr früh in den Tunnel, noch in der Mühler-Zeit vor Strachwitz und Scherenberg. Was er damals bot, war nicht bedeutend und ließ das Maß der Anerkennung auf einem mittlern Niveau; als er aber, in den ersten vierziger Jahren, von einem halbjährigen oder noch längeren Aufenthalt in Italien zurückkehrte, las er im Tunnel seine stark antipapistischen und namentlich antijesuitischen Gedichte vor, die bald darauf unter dem Titel »Lieder aus Rom« erschienen. Sie wurden sehr bewundert, und auch ich nahm ganz ehrlich an dieser Bewunderung teil. Zur Stunde denke ich nicht mehr so hoch davon. Alle diese Gedichte haben dieselben Tugenden, aber freilich auch dieselben Mängel, die die meisten Gedichte jener Tunnel-Epoche haben: sie sind alle männlichen Geistes, von einer, wenn man will, sehr tüchtigen Gesinnung eingegeben und stehen einerseits der Liebes- und andererseits der Freiheitsphrase, die damals die Lyrik beherrschte, sehr vorteilhaft gegenüber, aber sie haben, mit alleiniger Ausnahme der
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