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Voodoo Holmes - Holmes auf Haiti. Novelle

Voodoo Holmes - Holmes auf Haiti. Novelle

Titel: Voodoo Holmes - Holmes auf Haiti. Novelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Berndt Rieger
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gegenüber. Es war also kein Zufall, dass ich diesen bestiegen hatte, sondern es war vom Schicksal so gefügt und wenn das stimmte, dann war jedes Ereignis seit meiner Entführung ein Zeichen. Jetzt erst verstand ich das Bild der Entführer auf dem Dach des Gebäudes, das der Schule gegenüber lag. Sie hatten beständig den Platz gewechselt und um einen Platzwechsel ging es auch hier, vom Wildberg auf den Tempelberg, aus der Kälte des Herzens meiner Mutter in eine wärmere Kammer. Von der prächtigen Lehrstätte eines viktorianischen Schulgebäudes hinüber auf Stallungen, in denen das liebe Vieh hauste. Ich sollte also, wie die Bibel besagt, zum lieben Vieh werden und dabei die Maske der Zivilisation abwerfen, um überhaupt ein Mensch zu werden, jene lebende Substanz, die in einer Mutter Liebe hervorrufen kann.
     
     
     
     

IV
     
    Die erste Probe
     
     
    Es war längst dunkel geworden, als ich die Kuppe des Tempelberges erreichte, und wie das nach einem längeren Aufstieg üblich ist, wurde ich von Durst gequält, und das so sehr, dass ich von der Trockenheit im Mund schluckte. Ganz oben war der Hügel rasiert, es gab hier nur trockene Erde und feine Grashalme, die so sehr verdorrt waren, dass sie vom Wind ein surrendes Geräusch machten. Im Inneren und aus dem Inneren des Tempels strahlte das Licht, und zwar durch zwei offen stehende Türen, sodass jeder, der aus dem Dunkel herankam, geblendet wurde. So sah ich die Gestalt, die dort stand, erst so spät, dass ich davon zusammen zuckte, und ich war taumelig und sah so verschwommen, dass ich mir über die Augen wischte. Dann aber durchfuhr mich ein tödlicher Schreck, als ich ihn erkannte, ihn, der ich war, ihn in der älteren Version, den Geliebten, und als ich sah, dass er ebenso gekleidet war wie ich und seine Hosen an der gleichen Stelle zerrissen, sein Hemd offen und mit frei hängenden Schößen wie bei mir, begriff ich, dass eine klare Unterscheidung zwischen ihm und mir, wie im Traum, nicht bestand. Er war mein Spiegelbild, das aber mit einem entscheidenden Unterschied, denn er war jemand, er stellte etwas dar, und ich war flüchtig und aus Kristall wie die bloße Reflexion eines Gegenstandes auf der Silberbeschichtung auf der Rückseite eines Spiegelglases, und ich war es, weil ich ungeliebt war, ein Kind, das ohne Mutter aufgewachsen war, ein Prototyp, aus dem erst das Umsorgen, die Nachsicht, die Pflege einer liebenden Mutter etwas Gestalthaftes geschaffen hätte. Es war ein Blitz der Erkenntnis, der aber im nächsten Augenblick zunichte gemacht wurde, als mein Gegenüber mir einen Kelch entgegen hielt, in dem eine Flüssigkeit schimmerte. Dabei sagte er etwas Unverständliches, in der Sprache des Parketts, es klang nach Knistern und weichem Schmatzen, und er sagte es wie jemand, der Englisch gesprochen hätte, wenn ihm die Sprache vertraut gewesen wäre. Er machte Gesten, zeigte mir, als würde er Trinken und lächelte danach wie einer, der sagen will, dass ihm die Erfrischung gut getan hat. Er hielt mir den Kelch hin, als Willkommensgeste, und wirkte freundlich, fast ängstlich um meine Gunst bemüht. Gleichwohl aber war er jener, der in der Höhle unzählige Leben ausgelöscht hatte, und das Keuchen und die triumphierenden Laute, die er dabei hinter der Maske ausgestoßen hatte, gellten mir in Gedanken noch in den Ohren. Ich merkte, dass mich die Angst gepackt hatte, mir den Mund austrocknete, mein Herz pulsieren ließ und wie mir die Knie weich wurden vor ihm, den ich fürchtete. Zugleich sagte mir mein Verstand: Wenn er dich damals nicht getötet hat, dann bedeutet das, dass er es auch heute nicht kann oder darf. Und wo sind seine Waffen? Er kann den Spiegel nicht zertrümmern, in dem er sich spiegelt, und das bedeutet, dass ich wertvoller bin als Glas. Und obwohl ich so dachte und der Durst mich quälte, schüttelte ich nur stumm den Kopf. Er wiederholte sein Bitten, trank zur Probe selbst aus dem Kelch und hielt ihn mir wieder hin, doch als ich standhaft blieb, leerte er ihn selbst mit einem Zug, warf dann den Kelch weg, stampfte auf und lachte lauthals. Er lachte wie jemand, der einen ausgetrickst hat, der ein Spiel gewonnen hat, dessen Regeln er von Anfang an besser gekannt hatte als sein Gegenüber, und dann wandte er sich ohne einen weiteren Blick um und betrat den Tempel durch die linke der Türen. Die Frontseite des Tempels erinnerte mich mit einem Mal an eine Schweizer Kuckucksuhr mit zwei Türchen, durch die einmal ein Mann und dann

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