Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Voodoo Holmes - Holmes auf Haiti. Novelle

Voodoo Holmes - Holmes auf Haiti. Novelle

Titel: Voodoo Holmes - Holmes auf Haiti. Novelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Berndt Rieger
Vom Netzwerk:
eine Frau in alpenländischer Tracht hervor bricht, um sich im Kreis zu drehen, was einmal Mittag, und ein anderes mal Mitternacht bedeutet. Mir war bang geworden. Hatte ich meine Prüfung schon verfehlt, bevor ich überhaupt in das Tempelinnere gekommen war? Was bedeutete der Kelch? Wenn er Leben spendendes Wasser beinhaltet hatte, hätte er mich erfrischt. Wäre es aber Gift gewesen, wäre damit auch eine Entscheidung auf Leben und Tod gefallen, denn wer ihn leerte, starb. Hatte sich mein Bruder also in den Tempel zurückgezogen, um sein Leben auf dem Altar der Mutter auszuhauchen? Ich war zutiefst verunsichert.
    Ich hockte mich auf den Boden und schnüffelte am Kelch. Er roch nach Wein. Eine unwiderstehliche Gier befiel mich und ich begann an seinem feuchten Inneren zu lecken, und leckte dankbar und mit einem Stöhnen das Unbekannte, Erquickende. Es stillte nicht nur den Durst, nein, es war ein Lebenselixier, das spürte ich jetzt bis in jede Faser, und dass ich den Kelch, den mir mein Bruder angeboten hatte, verschmäht hatte, erfüllte mich, als ich ratlos von Wind umstrichen auf der Anhöhe hockte, mit grenzenlosem Bedauern. Mit Bedauern, die sich zur Traurigkeit auswuchs und mich lähmte. Ich spürte das Pochen meines Herzens und da war Angst, denn die Lähmung, die mich umfasste wie eine harte, trockene Hand, das konnte ein Gift sein, aber es war ein Gift nur, weil es so wenig war, weil ich mit so Geringem auskommen musste. Ich begann zu weinen wie im Traum, mit hackenden Stößen, aber es flossen keine Tränen. Vielleicht, weil ich so durstig war. Oder, weil mich Zorn erfüllte, ohnmächtiger Zorn über die Demütigung der Niederlage. Ich verwünschte mich, den Kelch abgewiesen zu haben. Hätte ich ihn ausgetrunken, als er noch voll gewesen war, hätte er mir die Kraft gegeben, meinen Bruder im Zweikampf zu töten, das spürte ich. Denn dass es soweit kommen würde, dass wir auf Leben und Tod miteinander rangen, das spürte ich. Es war fast so, als könne ich das Blut riechen, das aus der linken Kammer des Tempels strömte. Ich wusste, ich würde ihm in die linke Kammer folgen, obwohl die rechte für mich bestimmt war. Und im nächsten Moment war ich auch schon in den Tempel eingetreten, durch die linke Tür. Was ich dort sah, war so anders als erwartet. Die Kammer war kleiner als gedacht, und dunkel, und es roch dort unmissverständlich nach Blut. Und es war Blut, denn die Flechten, die seine Wand bekleideten, das waren die abgehackten Glieder von Tieren, ja, hauptsächlich von Tieren, aber auch von Menschen, dicht an dicht, gruppiert um einen Spiegel, einen alten, fleckigen Spiegel mit einem Steintisch und einer Schlange, einer riesigen schwarzen Schlange, die sich davor aufbäumte und pendelte. Dahinter kauerte mein Bruder. Er war mit dem goldenen Mantel angetan und trug seine Maske und ich sah das Blitzen eines Schwertes, das er mit sich führte. Ich hatte von dem Lärm, dem rasenden, pochenden, zischenden Tohuwabohu in der kleinen Kammer vorher nur ein Zischeln und Wispern vernommen und es für den Wind gehalten, der die Hügelkuppe umstrich, doch es war Musik, es waren Schreie und Rufe in der Sprache des Voodoo, und jene, die sie ausstießen, waren nicht die weiß gekalkten Mauern des Tempels, sondern die weiß bemalten Glieder der Lebenden, die dort standen. Was weiß war, lebte, was schwarz erschien, war etwas, das in dem Tempel verblutet war, als Dankopfer für die Göttin, die hinter dem Spiegel stand, schemenhaft, aber groß, eine riesige, milchige Frauenbrust, die atmete und lebte und vor der das schmale zuckende Schwarz einer Schlange pendelte, aufgepeitscht von Trommeln von irgendwo her, und dem Zischen der zahllosen Münder der Glaubensgemeinde. Jetzt verstand ich alles, jetzt stand mir vor Augen, worin die Prüfung bestand. Es war die Symbolik der Schlange, dieses Tieres, das Eva verführt und die Vertreibung aus dem Paradies bewirkt hatte. Es galt der Dämonenaustreibung aus dieser Schlange. Deshalb stießen diese Menschen scharfe Laute aus, denn es weckte die Dämonen und ließ sie tanzen, und dann, wenn sie sich zeigten und voller Wut und Gier den Kopf der Schlange an das Glas prallen ließen, hinter dem meine Mutter riesenhaft tanzte, das war der Augenblick, in dem der Sohn geprüft wurde, ob er den Mut hatte, gegen die Schlange anzutreten und gegen sie zu kämpfen, den Kopf vom Rumpf zu trennen und ihn zu zertreten und unschädlich zu machen für ewige Zeiten. So würde der Sohn das Land

Weitere Kostenlose Bücher