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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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zu tun haben würde. Ob er es wollte oder nicht. Er ging ans Ruder, klammerte sich an die Pinne und verbarg seinen Kopf unter der Öljacke. Wie ein kleiner Junge, der sich die Hände vor die Augen hielt, um nicht gesehen zu werden. Um nicht mehr da zu sein.
    Es waren nicht in erster Linie religiöse Gründe gewesen, die ihn bewogen hatten, der Tötung des Jungen zu widersprechen. Ned hatte in seinem liederlichen Leben so viele Sünden begangen, sowohl lässliche als auch Todsünden, dass es darauf letzten Endes gar nicht ankam. Nein, vor Gott oder den Strafen der Hölle hatte er keine Angst, eher schon vor sich selbst. Vor dem, was danach kommen würde. Wenn sie Dick töteten, würden sie eine Grenze überschreiten, hinter die sie nie wieder zurücktreten könnten. Wie ein Flaschengeist, der nicht mehr einzufangen war, wenn er erst einmal aus seinem Glasgefäß entkam. Sie würden zu reißenden und unbarmherzigen Tieren werden. Zu grausamen Bestien. Wen würden sie als Nächsten töten? Wen würde er umbringen, um nicht selbst sterben zu müssen? Nichts wäre so, wie es vorher war. Nichts.
    Ned schaute unter dem Ölzeug hervor. Der Kapitän und der Maat standen am Bug über den Jungen gebeugt, und es schien so, als betete der Kapitän. Plötzlich hob Dick den Kopf und starrte auf das Messer. Es war, als wachte er ein letztes Mal aus dem Fieberkoma auf und sträubte sich gegen sein Schicksal.
    »Was, ich, Sir?«, rief er, ohne jedoch die Hand zur Abwehr heben zu können.
    Und dann stieß ihm der Kapitän das Messer in den Hals.
    Das gurgelnde Geräusch ging Ned durch Mark und Bein. Und es weckte zugleich seine Lebensgeister. Wie ein Hai, der vom Blut angelockt wird und sich in seiner Gier auch auf seine verwundeten Artgenossen stürzt, schnellte Ned in die Höhe und lief zum Bug.
    »Gebt mir auch davon!«, rief er, griff nach einer der Dosen und setzte sie sich an die Lippen. Das warme, klebrige Blut schmeckte fürchterlich und köstlich zugleich, und er nahm einen großen Schluck, der wie zähflüssiger Tran die Kehle hinunterrann.
    Dass Dick gerade lautlos mit dem Tode rang, versuchte Ned aus seinem Kopf zu bannen. Er war ein guter Junge gewesen. Friede seiner unsterblichen Seele! Jetzt ging es allein darum, sein Blut zu teilen, bevor es gerann, und das eigene Überleben zu sichern. Was geschehen war, konnte nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Der Geist war aus der Flasche.
    »Und nun?«, fragte Stephens, nachdem sie die Dosen leergetrunken hatten und das nur noch tröpfelnde Blut zu gerinnen begonnen hatte.
    »Das Herz«, sagte der Kapitän und hielt das blutige Messer in die Höhe. »Und die Leber. Wir müssen ihn zerlegen.«
    Ned zögerte nur kurz. Er war der Schiffskoch und kannte sich aus. Er wusste, was zu tun war. Es gehörte zu seiner Arbeit. Das war nicht Dick, der dort lag, sondern frisches Fleisch, das verarbeitet werden musste. So rasch wie möglich. Also nahm er das Messer und setzte es direkt unter dem Brustbein an.
    Nichts galt mehr, schoss es ihm durch den Kopf, als er zustach.

FÜNFTER TEIL

    RUPERT INGRAM
    »We are each our own devil,
and we make this world our hell.«
    (»Wir sind jeder unser eigener Teufel,
und wir machen uns diese Welt zur Hölle.«)
    Oscar Wilde, The Duchess of Padua, 1883

MONTAG, 22. OKTOBER 1888
    1
    Seit zwei Tagen saß ich nun schon in dieser düsteren und stinkenden Zelle im rückwärtigen Teil der Polizeiwache am Snow Hill. Seit zwei Tagen starrte ich auf die Gitterstäbe, versuchte vergeblich, das wirre Gerede meines Zellengenossen zu ignorieren, und wartete darauf, aus diesem Irrsinn entlassen oder wenigstens einem Richter vorgeführt zu werden. Noch immer begriff ich nicht, wie es dazu gekommen war. Wie es dazu hatte kommen können. Es war wie ein Alptraum, aus dem man nicht aufwachen konnte. Noch nie in meinem Leben war ich mir so jämmerlich und erbärmlich vorgekommen. Und das nicht nur, weil ich von einem Polizisten niedergeschlagen worden war.
    Als ich am Samstagmittag nach meiner Ohnmacht wieder zu mir kam, saß ich in einem vergitterten Polizeiwagen, einer sogenannten »Black Maria«, mit Handschellen an den Händen und einem hämmernden Schmerz im Schädel. Mir gegenüber hockte der Constable, der mich mit dem Schlagstock niedergestreckt hatte und nun sehr zufrieden dreinschaute. Ich verstand nicht, was vorgefallen war und wieso man mich verhaftet hatte. Ich hatte doch gar nichts getan, niemanden verletzt oder bedroht. Wieso behandelte man mich wie einen

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