Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Und an Eva Booth und ihren verständlichen Grund, mich einen Satan zu nennen. Ich dachte nicht zuletzt an Long Liz und ihren Freund, den finsteren Hafenarbeiter Michael, dem ich zum willfährigen Handlanger geworden war, ohne die Folgen meines Handels auch nur zu erahnen. Und ich dachte an Simeon Solomon und das hübsche Mädchen, dessen Gesicht er angeblich vor acht Jahren gemalt hatte, was aus logisch zwingenden Gründen unmöglich war. All diese Menschen führten in meinem Kopf eine Art Hüpfreigen auf und schienen sich über mich lustig zu machen. Es war mir einfach nicht möglich, eine Ordnung in das Durcheinander zu bringen.
Außerdem schmerzten meine Augen, die Schläfen hämmerten unaufhörlich, und der Rattenbiss an meinem Muttermal eiterte und brannte wie Feuer. Nachts fuhr ich schweißnass aus Alpträumen auf, die seltsamerweise auch mit geöffneten Augen nicht aufhörten. Alles drehte sich im Kreis, als wäre ich betrunken.
Am heutigen Morgen war es mir kaum möglich gewesen, von der engen und harten Liege aufzustehen und mich aufzurappeln, um mir ein wenig Wasser ins geschundene Gesicht zu schütten. Mein verrückter Zellengenosse war bereits auf und schien sich diebisch zu freuen. Heute war sein großer Tag! Mir hingegen tat alles weh, und ich hätte mich am liebsten in einer Ecke verkrochen. Doch als der Wachhabende erschien, mit dem Schlagstock gegen die Gitterstäbe schlug und Besuch für mich ankündigte, war ich schlagartig hellwach. Auch wenn ich gleichzeitig das Gefühl hatte, das alles nur zu träumen.
Ich hatte gehofft, mein Vater oder besser noch einer meiner Brüder würde auf der Polizeiwache erscheinen, um mich aus diesem eisernen Käfig zu befreien, doch stattdessen war es der kleine Gray, der mich mit seinem verunstalteten Lausbubengesicht durch die Gitter anstarrte. Der Laufbursche des Hotels war von meinem Bruder William geschickt worden, ohne Wissen und gegen den ausdrücklichen Befehl meines Vaters, wie Gray gleich zu Beginn erklärte.
»Der Boss ist nicht gut auf Sie zu sprechen, Boss«, sagte er und verbesserte sich prompt: »Ich meine, Sir!« Er räusperte sich und fügte in verschwörerischem Tonfall hinzu: »Ganz schön dicke Luft im Hotel. Das können Sie mir glauben. Der Alte hat im Büro vom Boss getobt und wollte Sie am liebsten im Knast schmoren lassen. Keinen Finger würde er für Sie krumm machen, hat er geschrien. Würde Ihnen nur recht geschehen, dass Sie hinter Gittern sitzen. Vielleicht würden Sie dadurch endlich zur Vernunft kommen. Der Alte war fuchsteufelswild und hat gebrüllt, dass man’s durch die Wände hören konnte.«
Ich hätte Gray wegen seiner despektierlichen Rede tadeln müssen, doch stattdessen verteidigte ich mich: »Dies ist kein Knast, sondern eine Polizeiwache.«
»Kommt aufs Gleiche raus, oder?«, antwortete er achselzuckend und stieß mit dem Fuß gegen das Gitter. »Zelle bleibt Zelle.« Damit schob er ein Stoffpaket durch die Stäbe und sagte: »Frische Wäsche. Für den Prozess.«
Ich schaute hinein und sah eine helle Leinenhose, ein weißes Hemd, eine Krawatte, eine lange Unterhose und ein paar Socken. Nur die Schuhe und eine Jacke fehlten.
»William hat die Jacke vergessen«, sagte ich.
»Oh!«, rief Gray und machte ein bekümmertes Gesicht. »Tut mir leid. Hab ich nicht dran gedacht.«
Da begriff ich, dass nicht William auf die Idee mit der frischen Wäsche gekommen war, sondern dass Gray die Sachen für mich zusammengesucht hatte. »Danke, Gray«, murmelte ich. »Es geht auch ohne Jacke. Und auf die Schuhe achtet im Gericht ohnehin keiner.«
Er nickte achselzuckend, deutete dann mit dem Zeigefinger auf meine rechte Wange und sagte: »Das sieht nicht gut aus, Boss.«
»Ist nur ein Rattenbiss.«
»Scheint entzündet zu sein«, beharrte er und schob die Unterlippe vor.
»Ja, schon gut«, wehrte ich ab und fragte: »Wird mein Vater zur Verhandlung kommen? Oder hat William dir Geld mitgegeben, damit ich eine Kaution hinterlegen kann? Ich muss hier raus, Gray, sag ihnen das!«
»Das wissen die auch ohne dass ich’s ihnen sage«, erwiderte er und grinste plötzlich. »Man sollte sich halt nicht mit ’nem Copper anlegen, Boss. Das bringt nichts, man zieht doch nur den Kürzeren. Besser aus dem Weg gehen. Nichts wie weg, so halt ich’s immer mit der Polente. Und bloß keine Widerworte. Das können die von der Schmiere beim Teufel nicht ausstehen.«
»Danke für den Ratschlag«, knurrte ich und wiederholte meine Frage: »Wer wird
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