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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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Verbrecher? Auf meine Fragen antwortete der Constable, der die Nummer 189c auf seinem Stehkragen trug, lediglich mit einem Schulterzucken, und er wiederholte die Worte, die er zuvor an der Themse gesagt hatte: »Ich hatte Sie gewarnt, Sir.«
    Ich wurde zum Snow Hill gebracht und auf der Polizeiwache nach meiner Person und meiner Adresse befragt. Da ich keinerlei Papiere bei mir führte, die meine Identität bestätigen konnten, nannte ich dem diensthabenden Constable hinter dem Tresen meinen Vater und meine beiden Brüder als Bürgen und bat darum, sie umgehend zu informieren. Falls nötig, könnten sie eine Kaution oder schriftliche Bürgschaft für mich hinterlegen.
    »Ihr Vater ist Mr. Harvey Ingram, der Besitzer des Hatchett’s Hotel in Mayfair?«, fragte der Constable und betrachtete verwundert meine verdreckte und zerrissene Zimmermannskleidung. »Und Sie sind Mr. Rupert Ingram, Geschäftsführer des Crown Hotel in der Dover Street?«
    »Ganz richtig«, bestätigte ich und knetete den Schlapphut vor meinem Bauch.
    »Warum die Verkleidung, Sir?«, fragte der Diensthabende und machte eine sauertöpfische Miene. Auch er hatte eine Nummer auf dem Kragen, sie lautete: 408c. Vermutlich stand das C für City.
    Ich zuckte mit den Schultern und sagte: »Das ist eine lange Geschichte.«
    »Und warum haben Sie die junge Frau angegriffen?«, fragte der Polizist, der mich verhaftet hatte und nun ebenso verwundert anstarrte.
    »Ich habe sie nicht angegriffen, Officer«, protestierte ich.
    »Ich war Zeuge des Vorfalls«, beharrte der Constable wichtigtuerisch.
    »Es gab keinen Vorfall. Wir haben nur geredet. Sie haben mich angegriffen.« Dabei deutete ich mit gefesselten Händen auf die Beule an meinem Hinterkopf.
    »Sie haben sich den Anordnungen der Polizei widersetzt.«
    »Ich habe nichts dergleichen getan«, widersprach ich.
    »Ich hatte Sie gewarnt, Sir!« Constable Nr. 189c schien diesen Satz sehr zu mögen. »Sie wollten mich ebenfalls attackieren.«
    »Das stimmt nicht!«, rief ich und hätte ihn in diesem Augenblick am liebsten wirklich attackiert. Was aber allein schon wegen der Handschellen nicht möglich war. »Ich habe lediglich mit den Armen herumgefuchtelt. Das wird ja wohl noch erlaubt sein.«
    »Haben Sie getrunken?«, fragte der Diensthabende.
    »Heute nicht.«
    »Aber gestern«, erwiderte er, nickte wissend und machte eine Notiz auf seinem Zettel. »Verstehe.«
    »Ich bin nicht betrunken, Officer«, antwortete ich flehentlich. »Lassen Sie mich doch gehen. Außer mir ist ja niemand zu Schaden gekommen.«
    »Das wird das Gericht zu entscheiden haben«, sagte der Beamte hinter dem Tresen. Er wandte sich an einen älteren und pockennarbigen Polizisten, der die Szene ungerührt aus einem Lehnstuhl verfolgt hatte, und sagte: »Abführen!«
    »Wann werde ich dem Richter vorgeführt?«, wollte ich wissen.
    »Nicht am Wochenende«, sagte der Diensthabende achselzuckend.
    »Benachrichtigen Sie bitte meinen Vater«, bat ich, während ich von dem älteren Constable nach hinten geführt wurde. »Das ist alles ein Missverständnis.«
    Ich konnte nicht genau hören, was er antwortete, aber es klang wie: »Alles zu seiner Zeit!«
    »Ich sitz schon seit Donnerstag hier drin«, begrüßte mich der etwa vierzigjährige und verlebt aussehende Mann, mit dem ich die Zelle teilen musste. Er klang, als wäre er sturzbetrunken, was allerdings kaum möglich war, wenn er bereits seit zwei Tagen hier festsaß. Er rollte plötzlich die Augen, als hätte er ein Sandkorn hineinbekommen, dann sagte er: »Die werden Augen machen, wenn ich auspacke. Und dann werden sie mich hängen.«
    »Hängen?«, staunte ich. »Wieso? Wofür?«
    »Dafür!«, antwortete der Mann grinsend und bleckte dabei sein löchriges Gebiss. Er deutete durch die Gitterstäbe zur gegenüberliegenden Wand und fügte mit freudig verzerrter Miene hinzu: »Der da, das bin ich!«
    Meine Augen folgten seinem Finger und landeten auf einem Aufruf der Polizei vom Anfang des Monats, der neben einigen Steckbriefen und amtlichen Hinweisen an einem Schaubrett angenagelt war. Darauf hieß es:
    »Polizeiliche Bekanntmachung.
    An die Bewohner.
    Am Freitag, dem 31. August, am Samstag, dem 8. September, und am Sonntag, dem 30. September 1888, wurden in Whitechapel oder Umgebung Frauen ermordet, vermutlich von jemandem aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Sollten Sie von irgendeiner Person wissen, der ein Verdacht anhaftet, so werden Sie dringend aufgefordert, sich

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