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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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Hirngespinsten heimgesucht wurde. Die flirrende Hitze, das gleißende Sonnenlicht und seine entzündeten Augen ließen ihn merkwürdige Gestalten sehen, die sich zu ihnen ins Boot gesellten. Es war beinahe so, als träumte er mit offenen Augen. Einmal betrachtete er Dick und hatte plötzlich das Gefühl, durch seine Bauchdecke hindurch auf seine Innereien schauen zu können. Ein Schauer fuhr ihm bei dem Anblick durch den Körper, doch es war auch ein wohliger Schauer, der ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.
    Ned hatte Angst, den Verstand zu verlieren. Er mied den Anblick seiner Kameraden und die Gespräche mit ihnen. Doch seine Gedanken hatte er nicht mehr unter Kontrolle. Sie hatten sich verselbstständigt.
    Zwei Tage später, noch immer war kein Tropfen Regenwasser vom Himmel gefallen, hatte sich ihre Lage dramatisch verschärft. Sowohl Edwin Stephens als auch Dick Parker hatten in ihrer Not trotz der eindringlichen Warnungen des Kapitäns Salzwasser getrunken. Vor allem der Junge hatte so viel davon zu sich genommen, dass er nun mit starken Krämpfen und heißem Kopf daniederlag. Der Fieberwahn hatte ihn gepackt, und er redete nur noch wirres und unverständliches Zeug. Das verdammte Wasserfass schien immer noch in seinem Kopf herumzuspuken. Offensichtlich gab er sich die Schuld daran, dass sie ohne Trinkwasser ins Dingi gestiegen waren. Dabei hatte er nur getan, was der Kapitän befohlen hatte: das Fass neben dem Beiboot ins Wasser zu werfen. Die schwere Tonne hätte andernfalls den Boden des Dingis durchschlagen können, dann wären sie an Ort und Stelle in den Fluten ertrunken. Doch Schuldgefühle, das wusste Ned aus eigener Erfahrung, waren durch Verstand oder Vernunft kaum zu besänftigen.
    Dudley beschwor die anderen, es könne keine Sünde vor Gott und kein Verbrechen vor dem Gesetz sein, wenn man sein Leben rettete, statt sich tatenlos dem Tode auszuliefern. Immerhin hätten er und der Maat eine Familie zu versorgen und müssten auch an Frau und Kinder denken, die ohne sie mittellos dastünden. Ned erstarrte bei dem Gedanken an seine eigene Familie, die er vor Jahren sitzen gelassen hatte. Doch er beharrte auf seiner Ablehnung und bekreuzigte sich beinahe beschwörend. Der Maat jedoch, dessen Gesundheit durch das Meerwasser sichtlich angegriffen war, zögerte und meinte, sie sollten noch ein wenig abwarten. Immerhin seien sie den Dampferrouten schon deutlich näher gekommen; es sei nicht undenkbar, dass sie in Kürze gerettet würden.
    Am 24. Juli fiel Dick in eine fiebrige Ohnmacht. Er schüttelte sich und war nicht mehr ansprechbar, Schaum trat vor seinen Mund; es war abzusehen, dass er in Kürze sterben würde. Sie waren alle bis auf die Knochen abgemagert. Wenn sie noch lange warteten, wären sie schon rein körperlich nicht mehr in der Lage, irgendetwas zu unternehmen. Sie müssten auf der Stelle handeln, sagte der Kapitän und wies auf den Kabinenjungen, der dem Tod entgegendämmerte.
    »Warten wir, bis er tot ist«, antwortete Ned ausweichend.
    »Dann gerinnt das Blut, und wir können es nicht mehr trinken«, wehrte der Kapitän ab. »Der Junge wird ohnehin sterben. Wir erleichtern ihm nur sein Schicksal. Das sagt der Brauch des Meeres. So ist es rechtens.«
    »Ohne das Los entscheiden zu lassen?«, gab Ned zu bedenken und hob abwehrend die Hand. »Dann werden wir zu Mördern.«
    Wieder wies der Kapitän auf den röchelnden Jungen und sagte: »Gott hat das Los bereits gezogen. Dick wird sterben, ob wir ihn nun töten oder nicht.«
    Ned antwortete nicht. Aber er schüttelte auch nicht den Kopf. Er versuchte, die Stimmen in seinem Kopf zu ignorieren. Doch sie wurden immer lauter.
    »Morgen«, sagte Stephens. »Wenn wir bis dahin kein Segel gesehen haben …« Er ließ den Satz unbeendet und schaute stattdessen auf seine Hände, die wie die eines Skeletts aussahen. Dann wiederholte er: »Warten wir bis morgen.«
    Heute war der verabredete Tag. Der 25. Juli des Jahres 1884. Ein Freitag. Es ging auf den Abend zu. Kein Schiff weit und breit, keine Regenwolke am Himmel, keine Rettung in Sicht. Nur ein armer kranker Kabinenjunge im Bug des Dingis. Ein verzweifelter Kapitän mit einem Taschenmesser in der Hand. Und ein erbärmlich dreinschauender Maat mit zwei leeren Blechdosen, um das Blut aufzufangen.
    »Geh ans Ruder, Brooks!«, sagte der Kapitän, aber es war kein Befehl, sondern eine Bitte. »Und schau nicht hin!«
    Ned wollte nichts damit zu tun haben, aber er wusste, dass er etwas damit

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