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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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sie noch zu sich nehmen konnten, war ihr eigener Urin. Doch auch der war bald zähflüssig und ungenießbar.
    Kapitän Dudley schlug vor, aus den Hemden und einigen schmalen Bootsplanken ein Segel zu fertigen, um schneller zu den westlich gelegenen Schifffahrtsrouten zu gelangen, doch das hätte bedeutet, dass sie am ganzen Körper verbrannten und ihr Durst noch quälender würde, weshalb sie sich zunächst dagegen entschieden. Mit dem Passat trieben sie zumindest in die richtige Richtung, alles Weitere würde sich zeigen. Nun half nur noch beten. Und sich kräftig in die Riemen legen.
    Ned hatte mit dem Durst und dem Hunger anfangs keine großen Probleme. Viel schlimmer war für ihn zu Beginn der Reise das Alkoholverbot des Kapitäns gewesen, das bei Ned in den ersten Tagen zu Zitteranfällen, Hitzewallungen und Schweißausbrüchen geführt hatte. Dass sie jetzt nur wenige Tropfen Regenwasser am Tag zur Verfügung hatten und an ranzigen Schildkrötenresten nagten, machte ihm weniger aus, als er gedacht hätte. Es fiel ihm zunächst auch nicht schwer, die Warnung des Kapitäns in Bezug auf das Seewasser zu beherzigen. Auf keinen Fall dürften sie Salzwasser trinken, hatte Dudley sie ein ums andere Mal beschworen, das sei lebensgefährlich und könne sie töten.
    Vor allem Dick litt unter dem Durst. Er schien nicht begreifen zu können, dass sie nichts zu trinken hatten, obwohl sie doch von Wasser umgeben waren.
    »Wasser kann man trinken«, sagte er mit gequälter Miene, »und Salz kann man essen. Wieso ist Salzwasser dann ungenießbar? Das will mir nicht in den Kopf.«
    »Warum das so ist, kann ich dir nicht erklären«, antwortete der Kapitän. »Aber dass es so ist, musst du mir einfach glauben. Es würde den Durst nur noch schlimmer machen. Und am Ende würden wir davon sterben.«
    Dick schien nicht überzeugt zu sein, er wiegte nachdenklich den Kopf.
    »Ich hab von Schiffbrüchigen gehört, die verrückt geworden sind«, mischte sich Ned ein und legte dem Jungen besänftigend die Hand auf die Schulter. »Sie haben Meerwasser getrunken und anschließend den Verstand verloren. Einer von ihnen hat in seinem Wahn die anderen für Angreifer gehalten und sich mit dem Messer auf sie gestürzt. Er musste von seinen Kameraden getötet werden.« Ned schaute dem Jungen direkt ins ausgemergelte und beinahe bartlose Gesicht und setzte eindringlich hinzu: »Der Kapitän hat recht. Wir würden daran krepieren.«
    Dick schaute Hilfe suchend zum Maat, doch der presste die Lippen aufeinander und zuckte mit den Schultern.
    »Hast du mich verstanden, Dick?«, fragte der Kapitän.
    »Ay, Sir!«, antwortete der Junge. Doch seine Miene sagte etwas anderes.
    Am 17. Juli waren sämtliche Doseninhalte, Schildkrötenreste und Regenwasservorräte aufgebraucht, und in der ganzen Zeit hatten sie nicht ein einziges Segel am Horizont gesehen. Ihre Zungen waren aufgequollen, die Haut brannte, als würde sie über dem Feuer geröstet, und jede Bewegung schmerzte in den Gelenken, was das Pullen an den Riemen zu einer Tortur machte. Die einzigen Fische, die sie in den letzten Tagen zu Gesicht bekommen hatten, waren Haie gewesen, und eines dieser gefräßigen Ungeheuer hatte das Dingi offensichtlich für Nahrung gehalten und mit dem Rücken gerammt, sodass sie beinahe gekentert wären. Wenn sie nicht bald von einem Schiff gerettet würden oder durch ein Wunder an Nahrung gelangten, würden sie alle sterben. Also beschlossen sie, doch das Segel zu errichten, auch auf die Gefahr hin, einen Hitzschlag zu bekommen oder in der Sonne verrückt zu werden. Schlimmer konnte es ohnehin kaum kommen.
    Doch es kam noch schlimmer. Nach drei weiteren quälend langen Tagen ohne Wasser und Nahrung brachte der Kapitän ein ungeschriebenes Gesetz ins Gespräch, das er den »Brauch des Meeres« nannte. Sie sollten Lose ziehen, meinte er, denn es sei nicht einzusehen, dass sie alle krepierten, wenn doch das Opfer eines einzigen Mannes das Leben der anderen retten könnte. Ned wurde bei dem Gedanken speiübel. Er schüttelte heftig den Kopf und beteuerte, lieber sollten sie alle sterben, als dass das Blut eines Menschen an ihren Händen klebte. Immerhin seien sie gläubige Christenmenschen und keine gottlosen Kannibalen. Stephens pflichtete ihm bei, damit war das Thema fürs Erste beendet.
    Doch der Gedanke hatte sich in Neds Kopf eingepflanzt und verfolgte ihn nicht nur in seinen Alpträumen, sondern auch am Tag, wenn er immer häufiger von seltsamen Zerrbildern und

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