Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Fahrgäste. Der immer dichter werdende Nebel schluckte die wenigen Geräusche, die noch zu vernehmen waren, und erzeugte eine unheimliche, diffuse Stille. Ich war hundemüde und überlegte, ob ich nicht einfach in die Dorset Street gehen sollte, die sich ja gleich auf der anderen Straßenseite befand, um mich im Miller’s Court schlafen zu legen. Den Schlüssel zu meinem fensterlosen Kabuff trug ich bei mir, und wenn ich die Tür offen stehen ließe, würde ich durch das Morgenlicht zeitig genug erwachen, um zum Frühstück mit Mr. Barclay wieder im Hatchett’s zu sein.
Der Gedanke an das finstere Loch, das ich noch vor wenigen Tagen quasi zu meinem neuen Zuhause erklärt hatte, ließ mich frösteln. Vielleicht weil mein Verstand, anders als beim letzten Mal, nicht durch Alkohol und Ärger benebelt war. Während ich reglos vor dem Friedhof der Christ Church stand und zur Dorset Street schaute, ohne mich zu einem Entschluss durchringen zu können, sah ich einen Mann mit einem Bowler auf dem Kopf direkt auf mich zukommen. Er hatte vor dem Britannia gestanden und mich eine Weile aus der Ferne beobachtet, doch erst als er die Straße überquert hatte und unmittelbar vor mir stand, erkannte ich ihn. Es war Michael Kidney, und sein Blick war ebenso finster und drohend wie beim letzten Mal, als ich ihm im Miller’s Court begegnet war.
»Wusste ich’s doch!«, rief er und deutete auf meine elegante Kleidung. »Hab mir gleich gedacht, dass mit dir was nicht stimmt. Kein normaler Mensch zahlt so viel für die bescheuerte Bruchbude. Bist du von der Polente oder von der Presse? Hast gedacht, du kannst uns an der Nase rumführen, was?«
»Erstaunlich, dass du mich erkannt hast«, antwortete ich und machte einige Schritte zurück, bis ich mit dem Rücken an der Friedhofsmauer stand.
»Ich bin doch nicht blind, du Schwachkopf!«, knurrte Michael. »Du bist von der Zeitung, oder? So blöd kann kein Polizist sein. Also, was willst du von mir?«
»Von dir?«, gab ich mich erstaunt. »Was sollte ich von dir wollen?«
Seine Hand schnellte nach vorn und packte mich am Kragen. »Jetzt hör mir mal zu, Freundchen! Ich kann’s nicht leiden, wenn mir jemand nachschnüffelt. Und ich lass mich auch nicht gern für dumm verkaufen! Verstanden?«
»Du meinst wegen Liz?«, sagte ich und stieß ihn weg, obwohl er körperlich viel stärker war und mich vermutlich mit einem einzigen Schlag hätte niederstrecken können. Deshalb setzte ich rasch nach: »Wegen der Heilsarmee? Keine Bange, Michael, wenn du’s nicht verrätst, verrate ich es auch nicht. Braucht ja niemand zu wissen, was in der Hanbury Street passiert ist. Wir haben uns in der Nacht beide nicht mit Ruhm bekleckert.«
»Erinnerst dich wieder, was?«, fauchte er und drohte mir mit der Faust. »Ich rate dir, es für dich zu behalten. Würde dir sonst nicht gut bekommen.« Er kam mir ganz nahe und setzte beinahe flüsternd hinzu: »Rupert.«
Ginger hatte also meinen Namen ausgeplaudert. Ich nickte und sagte: »Hast dem Coroner einen ganz schönen Bären aufgebunden.«
Er zuckte kurz zusammen, grinste dann und meinte: »Kann’s eben nicht leiden, wenn man seine Nase in meine Privatangelegenheiten steckt. Geht keinen was an! Das gilt auch für dich!«
»Ich werde es mir merken.«
»Tu das!«, schnaubte er, fuhr sich über den Schnauzbart und piekste mit seinem wurstigen Zeigefinger in meine Brust. »Sonst wird’s dir nicht gut bekommen!« Damit wandte er sich ruckartig ab und ging hinüber zur Dorset Street, wo ihn der Nebel und die Dunkelheit verschluckten.
Ich atmete tief durch und lehnte mich an die Friedhofsmauer, da meine Knie zitterten und mein Herz derart raste, dass ich Angst hatte umzukippen. Das war knapp gewesen, dachte ich erleichtert. Und gleichzeitig schimpfte ich mich einen Dummkopf, weil ich Michael zu erkennen gegeben hatte, dass ich mich an die Szene vor dem Frauenasyl erinnerte. Und dass ich von seiner Falschaussage vor dem Richter wusste. Um Michael Kidney sollte ich in nächster Zeit einen großen Bogen machen.
Während ich noch nach Luft rang und Mühe hatte, meine Aufregung unter Kontrolle zu bekommen, hörte ich plötzlich seltsame Stimmen und Geräusche hinter mir. Sie mussten vom Friedhof kommen, der allerdings wegen der hohen Mauer nicht einzusehen war. Ich erinnerte mich, dass der Friedhof von Christ Church im Ten Bells Pub immer nur »Itchy Park« genannt worden war. Wegen der Obdachlosen und Landstreicher, die sich dort nächtens herumtrieben
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