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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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und sich ständig kratzten, weil ihnen das juckende Ungeziefer zusetzte.
    »Algie, du Schweinehund!«, krächzte eine trunkene Männerstimme, und kurz darauf folgte ein irres Lachen, das in einen Hustenanfall mündete. »Verdammter Hänfling! Elender Verräter! Missgeburt!«
    »Halt’s Maul!«, rief eine andere Männerstimme. »Wir wollen schlafen.«
    Das wilde Fluchen ging in ein unverständliches Gebrabbel über, doch plötzlich schrie der Mann wieder: »Du Mistkerl! Komm her, dann hau ich dir was aufs Maul! Verdammter Judas!«
    »Jetzt reicht’s!«, hörte ich die andere Stimme. »Jetzt hältst du dein Maul!« Ein seltsames Rascheln und Scharren war zu vernehmen, dann dumpfe Schläge, unterdrücktes Röcheln und schmerzhaftes Ächzen.
    »Lasst mich!«, rief der erste Mann, dessen versoffene Stimme ich längst erkannt hatte. »Was wollt ihr von mir? Ah! Hört doch auf!«
    Direkt an der Friedhofsmauer hatte ein Händler sein Fuhrwerk abgestellt und mit einer dicken Eisenkette an der Gaslaterne gesichert. Ich kletterte auf die Ladefläche, stieg auf eine Holzkiste und bekam von dort die Mauerkrone zu fassen. Da die Umfriedung sehr unregelmäßig gemauert und verwittert war, fand ich mit meinem rechten Fuß Halt an einem Vorsprung und kraxelte auf die relativ breite, aber zur Straße hin abschüssige Mauerkrone.
    Wieder hörte ich die dumpfen Schläge und das Röcheln.
    »Simeon!«, rief ich, während ich rittlings auf der Mauer saß und versuchte, irgendetwas auf dem Friedhof zu erkennen. Das Gelände war nicht beleuchtet und lag im Schatten der hohen Mauer. Die Straßenlaterne beleuchtete lediglich die Wipfel der Bäume, die zwischen den Gräbern standen. Außerdem war der Nebel auf dem Friedhof, vermutlich wegen des feuchten Untergrunds, noch dichter als auf der Straße. Wieder rief ich: »Simeon!«
    »Wer ist das denn?«, hörte ich eine Stimme direkt unter mir.
    »Ein Engel!«, rief Simeon lallend. »Direkt vom Himmel.«
    Ich hielt mich an der Mauerkrone fest, ließ mich vorsichtig hängen, sprang hinunter und landete direkt neben einem Grabmal, um das sich mehrere Gestalten versammelt hatten.
    »Wer bist du?«, hörte ich Simeon keuchen.
    »Das hättest du auch einfacher haben können«, lachte der Mann, der sich vorhin über Simeons Geschrei beschwert hatte. »Die Gittertür neben der Kirche ist offen. Oder glaubst du, wir wären alle wie die Engel über die Mauer geflogen?«
    Meine Augen hatten sich mittlerweile so weit an die Dunkelheit gewöhnt, dass ich zumindest Umrisse und Schemen erkennen konnte. Rings um das Grabmal lagen dunkle Gestalten auf den Grabplatten, Bänken und zwischen den immergrünen Büschen. Einige von ihnen hatten sich mit Lumpen zugedeckt, andere lagen auf Zeitungspapier oder waren schutzlos der Kälte und Feuchtigkeit preisgegeben. Sie alle hatten sich auf dem Friedhof zusammengefunden, um hier ungestört die Nacht zu verbringen. Ein unverkennbarer Gestank nach Alkohol hing über der Szene, vermischt mit dem schwefligen Geruch des Nebels.
    Direkt vor mir hockte Simeon zusammengekauert auf dem Boden, die Hände über dem Kopf gefaltet, als erwartete er von mir weitere Schläge. Die Männer, die ihn malträtiert hatten, machten murrend Platz, als ich mich Simeon näherte und meine Hand ausstreckte.
    »Komm, Simeon, wir gehen!«, sagte ich, hielt aber gleichzeitig den Gehstock hoch, um mögliche Angriffe der umstehenden Männer abzuwehren.
    »Ja, nimm den Schreihals ruhig mit«, brummte einer von ihnen. »Sonst stopfen wir ihm endgültig sein Maul.«
    »Wer bist du?«, lallte Simeon, während ich ihn hochzog, seinen Arm um meine Schulter legte und ihn zur Gittertür schleifte.
    »Dein Schutzengel«, sagte ich schnaufend und hatte Mühe, ihn zu halten, weil er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. »Lass uns hier verschwinden.«
    Simeon sah elend und erbärmlich aus. Als wir den Platz vor dem Kirchenportal erreicht hatten und ich ihn im Schein der Straßenlaternen betrachtete, bekam ich einen gehörigen Schreck. Seine Nase blutete, die Wangen waren blau unterlaufen, die Augen schwarz gerändert, und auf seiner Stirn hatte er eine Platzwunde. Die Anstaltskleidung des Arbeitshauses – graue Hose, graue Weste, graue Jacke – war verdreckt und zerrissen, seinen Hut hatte er verloren. Noch erschreckender als seine äußere Erscheinung war jedoch der irre Blick, mit dem er mich betrachtete oder vielmehr durchbohrte. Er sah aus, als hätte er völlig den Verstand verloren. Und das

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