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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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Ärgerlich setzte ich meinen Zylinder auf, schlug den Kragen hoch und wollte die Kneipe schon verlassen, als mein Blick auf zwei Frauen fiel, die an einem hohen Ecktisch direkt neben dem Eingang standen. Die jüngere der beiden, eine kaum zwanzigjährige Frau mit langem, dunkelblondem Haar und buschigen Augenbrauen, war mir unbekannt, doch bei der Älteren handelte es sich um Ginger, meine Nachbarin aus dem Miller’s Court. Als ich die Kneipe betreten hatte, hatten die Frauen noch nicht dort gestanden, denn Gingers grellrote Haare wären mir bestimmt aufgefallen. Sie bekamen gerade von einem Schankmädchen zwei Helle serviert und prosteten sich zu. Ich wollte mich Ginger schon zu erkennen geben, doch irgendetwas hielt mich plötzlich zurück. Und so stellte ich mich hinter einen breiten Stützbalken in ihrer Nähe, lugte möglichst unauffällig um die Ecke und lauschte ihrem Gespräch.
    »Bist du sicher, dass du weißt, worauf du dich einlässt, Heather?«, fragte Ginger und nahm einen großen Schluck. »Das ist kein Kinderspiel.«
    »Klar«, antwortete die Dunkelblonde mit auffallend heiserer Stimme. »Bin ja kein Kind mehr. Hab das schon öfters gemacht. Früher in Blackburn und auch in London. Was ist schon dabei? Solange was dabei rumkommt. Immer noch besser als Putzen oder Betteln.«
    »Na, ich weiß nicht«, antwortete Ginger und schüttelte ihre rote Mähne. »Ich mach das ja auch schon ein paar Jahre, aber gewöhnen werd ich mich nie dran. Die Kerle können ganz schön rabiat werden. Und damit meine ich nicht nur die verdammten Freier.«
    Das Mädchen namens Heather nickte wissend und fragte: »Kennst du Michael eigentlich schon lange?«
    »Geht so«, sagte Ginger. »Wie man sich halt so kennt, wenn man ’ne Zeit lang in derselben Nachbarschaft wohnt. Ich würde an deiner Stelle jedenfalls vorsichtig sein, vor allem wenn er gesoffen hat. Michael ist dann wie ’ne Stange Dynamit. Ein Funken, und schon geht er hoch. Bum!« Sie leerte ihr Glas und setzte hinzu: »Wie hast ’n den überhaupt kennengelernt?«
    »Wie man sich halt so kennenlernt. In ’ner Kneipe«, antwortete Heather und grinste anzüglich. »Hauptsache, ich hab ein Dach über dem Kopf und einen Kerl, der für mich sorgt. Vorher war ich bei der Heilsarmee in der Hanbury Street. Glaub mir, das war nichts für mich. Von Almosen leben und fromme Betschwestern ertragen, die einem ständig mit dem Himmelreich in den Ohren liegen! Und keinen Penny in der Tasche. Nee, da bin ich lieber mein eigener Herr.«
    »Schmink dir das gleich wieder ab, Kleine«, widersprach Ginger und tippte an Heathers Stirn. »Michael ist der Herr, und er duldet niemanden neben sich. Da wird er fuchsteufelswild.« Plötzlich beugte sich Ginger so weit vor, dass sie mir direkt ins Gesicht schaute. Sie hatte offensichtlich bemerkt, dass ich sie und ihre Begleiterin beobachtete, und hob drohend den Finger. »Na, Meister, genug geglotzt?«, fauchte sie. »Wenn du mehr willst, musst du dafür zahlen.«
    »Ich dachte, gucken kostet nichts«, antwortete ich grinsend und kam hinter dem Stützbalken hervor.
    Sie stutzte kurz, schaute mich verwirrt an und meinte dann: »Vergiss es! Umsonst ist der Tod.«
    Ich war sicher gewesen, dass sie mich erkennen würde, doch dem war offensichtlich nicht so. Sie betrachtete mich wie einen völlig Fremden, weil sie nicht in mein Gesicht, sondern lediglich auf meine Kleidung schaute. Sie fuhr mit der Hand über den Pelzkragen meines Mantels und sagte: »Hast du dich verlaufen, Kleiner?«
    »Schon möglich«, antwortete ich. »Möchten die Damen noch etwas trinken?«
    »Aber immer«, frohlockte Heather. »Das Gleiche noch mal.«
    Ich machte dem Wirt ein Zeichen und deutete auf den Ecktisch.
    »Bist nicht von hier, oder?«, fragte Ginger. »Bist auch einer von den Neugierigen. Brauchst ’n bisschen Nervenkitzel, was? Willst mal nachschauen, wo der Ripper sich so rumtreibt.«
    »Wisst ihr was über ihn?«, antwortete ich.
    »Wir leben hier«, rief Ginger verächtlich. »Natürlich wissen wir was über ihn. Die Frau, die er drüben in der Berner Street umgebracht hat, das war ’ne gute Freundin von mir.«
    »Long Liz«, sagte ich.
    Ginger schaute mich überrascht an und wollte etwas erwidern, doch Heather unterbrach sie: »Du kanntest die? Woher?«
    »Liz war früher Michaels Freundin.«
    »Echt?«, wunderte sich Heather. »Hat er gar nichts von erzählt.«
    »Wundert mich nicht«, meinte Ginger. Dabei schaute sie nicht das Mädchen, sondern mich an.

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