Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Gefängnis von Newgate, dem Hauptquartier der Heilsarmee, der Guildhall und dem Mitre Square nahe dem Aldgate, wo der Ripper zuletzt so bestialisch zugeschlagen hatte. Es kam mir vor, als rasten die Ereignisse der letzten Tage wie in einem wilden Reigen an mir vorbei. Als der Omnibus die Commercial Street erreicht hatte, die nach Norden hin zum Britannia und Ten Bells führte, wo ich meine Suche nach Simeon eigentlich beginnen wollte, blieb ich, einem plötzlichen Impuls folgend, sitzen und fuhr weiter bis zur Whitechapel Road. Dort, im Cloak and Dagger, war ich Michael Kidney das erste Mal begegnet. Und dorthin trieb es mich jetzt, als würde ich von einem Magneten angezogen.
Der Regen hatte mittlerweile nachgelassen, dafür stieg Dampf von den Straßen auf. Ein fauliger Geruch nach Dung und Schimmel stach mir in die Nase, als ich vor dem London Hospital aus dem Omnibus stieg. Die Uhr über dem Eingang des Krankenhauses zeigte Mitternacht. Dichter Nebel hatte sich gebildet und ließ alles unwirklich und unheimlich erscheinen. Die Gaslaternen gaben kaum mehr Licht als funzelige Kerzen ab. Vor dem nahe gelegenen, aber bereits verschlossenen Eingang zur U-Bahn-Station Whitechapel hatte sich eine kleine Traube von Männern gebildet, die die Köpfe zusammensteckten und zu Boden schauten, als gäbe es auf dem Pflaster etwas Interessantes zu sehen. Wenn ich mich nicht irrte, trugen einige der Männer dunkle Uniformen.
Als ich durch den schmalen Durchlass ging, der zum Cloak and Dagger führte, stolperte ich nach wenigen Schritten über einen weichen Körper auf dem Boden, den ich in der Dunkelheit gar nicht wahrgenommen hatte.
»Mensch, pass doch auf!«, schnauzte der Mann, der sich vor dem Regen in den Durchgang gerettet hatte und dort zwischen dem Unrat die Nacht verbrachte. Vermutlich war er ein Trinker, der es nicht mehr bis nach Hause geschafft hatte.
»’tschuldigung!«, murmelte ich und betrat den verwinkelten Yard, in dem es von dunklen Nischen, steilen Kellerzugängen und schmalen Durchlässen nur so wimmelte. Einer dieser Durchgänge auf der anderen Seite des Hofes führte zu einer Gasse, die parallel zur Whitechapel Road verlief. Dort, in der Buck’s Row, hatte der Ripper vor ziemlich genau zwei Monaten sein erstes Opfer getötet.
Als ich das Cloak and Dagger betrat, schlug mir lautes Stimmengewirr und ein undurchdringlicher Nebel aus Tabakrauch und menschlichen Ausdünstungen entgegen. Ich brauchte eine Weile, bis ich mich an die schummrigen Lichtverhältnisse, die beißende Luft und den Krach gewöhnt hatte, und wartete, da die Kneipe gut gefüllt und kein Tisch frei war, bis ich einen Platz am Tresen ergattern konnte. In meiner Kleidung fühlte ich mich seltsam deplatziert an diesem Ort, der vor allem von Dockarbeitern und Seeleuten aufgesucht wurde. Manche der Besucher beäugten mich skeptisch, rümpften die Nase und schüttelten den Kopf, als wäre ich es, der den Gestank in dieser Kneipe absonderte. Nur der Wirt, ein Hüne von einem Kerl, lächelte unterwürfig, wischte sich die dreckigen Hände an einem ebenso dreckigen Tuch ab und fragte: »Womit kann ich dienen, Sir?«
Ich bestellte ein Porter, gab ein üppiges Trinkgeld und fragte: »Ist Michael da?«
»Gibt viele Michaels«, antwortete er und zuckte mit der Schulter.
»Michael Kidney. Arbeitet unten am Hafen.«
»Sind Sie ’n Copper?«, fragte er.
»Seh ich so aus?«
»Sie sehen jedenfalls nicht wie ’n Freund von Michael aus.« Wieder folgte ein Achselzucken, dann sagte er: »Hab ihn heut noch nicht gesehen. Leg auch keinen Wert drauf. Macht nur Ärger, der Kerl.«
Ich nickte, nippte an dem Bier, das wie Teerwasser aussah und auch so schmeckte, und schaute mich in dem Schankraum um. Rechts hinterm Tresen führte ein schmaler Gang zum Hinterausgang und von dort zu einem zweiten Hinterhof mit dem Abort. In der hinteren Ecke des Schankraumes ging eine schmale steile Treppe nach oben, wo sich ein weiterer Gastraum befand. Nach Simeon Ausschau zu halten, war vermutlich zwecklos, da er sich meist in den Kneipen rund um die Christ Church in Spitalfields herumtrieb. Dort kannte man ihn und warf ihn nicht gleich auf die Straße, wenn er mit seinen billigen Bildchen die Gäste belästigte. Und dort trafen sich die Skeletons, bei deren Zusammenkünften schon mal ein Bier oder Schnaps ausgegeben wurde. Im Cloak and Dagger hatte ich Simeon noch nie gesehen.
Mein Umweg über die Whitechapel Road war offenbar reine Zeitverschwendung gewesen.
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