Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
auf den Rücken – eine vertrauliche Geste, die mir höchst unangenehm war. »Und jetzt zeigt dir Mr. Anderson dein neues Büro. Es wird dir gefallen. Es hat einen freien Blick auf die Themse.«
Ich nickte hilflos, sah Mr. Barclay im Brauhaus verschwinden und folgte Mr. Anderson artig über den Hof.
Nach einer quälend langen Stunde, in der mir der Bürovorsteher meinen zukünftigen Arbeitsplatz im vierten Stock von Anchor Terrace zeigte, mich den Kollegen und baldigen Untergebenen vorstellte und mir die Buchhaltung und das Rechnungswesen in groben Zügen erläuterte, war ich beinahe froh, von Mr. Barclay in sein Büro im Brauhaus gebeten zu werden. Statt der Zigarre, die er mir anbot, zündete ich mir eine Zigarette an und ließ geduldig einen weiteren Schwall von selbstgefälligen Worten über mich ergehen. Während er über die Braukunst philosophierte und dabei die Errungenschaften und Leistungen von Barclay, Perkins und Company hervorhob, ließ er ganz nebenbei durchblicken, dass mich im Grunde weder der Vorgang des Brauens noch die kaufmännische Seite des Betriebes wirklich zu interessieren habe.
Auf meine verwunderte Reaktion hin lachte er und sagte: »Ich erwarte nicht, dass du ein Braumeister oder eifriger Geschäftsmann wirst, und ich glaube auch nicht, dass dir die Arbeit im Kontor Spaß machen wird. Das ist auch gar nicht nötig. Dafür habe ich meine Leute. Fähige Männer wie Mr. Anderson. Es genügt, wenn du dir die Grundbegriffe unserer Arbeit aneignest und so tust, als würdest du etwas von der Materie verstehen.« Wieder lachte er und legte väterlich die Hand auf meinen Arm. »Davon abgesehen reicht es, wenn du nicht gegen die Maschinen oder Schreibtische läufst.«
»Ich verstehe nicht, Sir«, antwortete ich verwirrt.
»Wenn du den Vertrag gelesen hättest, würdest du verstehen«, erwiderte er. »Du sollst die Brauerei nicht leiten und mir auch nicht dabei über die Schulter schauen oder zur Hand gehen, sondern die Firma nach außen hin vertreten und auf ansprechende Art repräsentieren. Ich brauche dich als …«
»Visitenkarte«, folgerte ich und lachte erschrocken. Diese Rolle hatte ich schließlich lange genug im Crown Hotel gespielt. Ein lebendes Aushängeschild.
»Ja, so könnte man es nennen«, sagte er und paffte an seiner Zigarre. »Ich will ganz ehrlich sein, Rupert. Eigentlich habe ich gar keine Verwendung für jemanden wie dich. Du bist ein gewitzter Bursche und ein hübscher Kerl obendrein. Das ist unbestritten. Aber gutes Aussehen und Esprit sind nicht unbedingt das, was man in einer Brauerei braucht. Ich mag dich, Rupert, aber wenn dein Vater mich nicht so eindringlich gebeten hätte, dich hier irgendwo unterzubringen, wäre ich niemals auf die Idee gekommen, dich aus deinem geliebten Mayfair herauszulocken.«
»Mein Vater?«, entfuhr es mir. »Ich dachte, das war Ihre Idee, Sir. Wegen dem kleinen Robert junior.«
»Ach was«, antwortete er und winkte ab. »Bis Robert junior oder die anderen Kinder alt genug sind, die Geschäfte zu übernehmen, werde ich den Laden schon noch allein beisammenhalten. So alt bin ich ja noch nicht.«
»Und Meredith?«
»Was ist mit ihr?« Er zuckte mit den Schultern und sagte: »Ob sie in Mayfair oder Southwark wohnt, spielt für sie keine Rolle. London ist London. Hauptsache, sie kommt aus Bury Hill raus. Die Langeweile des Landlebens tut ihr nicht gut. Sie ist nun mal die Tochter der verstorbenen Schwester meiner Frau, und deshalb geben wir auf sie acht.« Ein seltsames Funkeln lag bei diesen letzten Worten in seinen Augen.
»Verstehe«, sagte ich und kam mir vor wie eine Marionette, an der von allen Seiten gezogen und gezupft wurde. Die Verbindung mit Meredith hatte meinem Vater nicht nur die Gelegenheit gegeben, die Familie Ingram mit der reichen Sippe der Barclays zu verbinden, sondern mich zugleich aus dem Crown Hotel zu entfernen und meinem ziellosen Treiben ein Ende zu machen. Und für Mr. Barclay war ich nichts weiter als ein galanter Nichtsnutz, der allein dem Zweck diente, die törichte Nichte von dem unliebsamen Barclay-Cousin Frederick fernzuhalten, der andernfalls womöglich um ihre Hand anhalten und damit einen Familienkrieg auslösen könnte.
»Entschuldigen Sie mich, Sir«, sagte ich, erhob mich mit zittrigen Knien und reichte ihm die Hand. »Aber ich habe noch einen Termin.«
»Einen Termin?«
»Bei einem Fotografen«, sagte ich, weil mir auf die Schnelle nichts Besseres einfiel. »In der Fenchurch
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