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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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hatten. Ich betrat das Gasthaus, wo sich weitere Mitglieder der Heilsarmee missionierend betätigten. Der junge Wirt des Inns, ein dürrer Kerl mit riesigen Ohren und strubbeligen Haaren, starrte missgelaunt auf seinen Schanktisch, während ein Heilsarmist auf der anderen Seite lautstark auf ihn einredete. Als der Uniformierte sich kurz umwandte, erkannte ich das zerschundene Gesicht des Mannes, der sich bereits vor der Brauerei durch seine Heftigkeit und Rage hervorgetan hatte. Ich setzte mich an einen Tisch in unmittelbarer Nähe des Tresens und lauschte dem Gespräch.
    »Wie lange wollt ihr den Unfug da draußen noch veranstalten, Adam?«, fragte der Wirt und wischte sich mit einem Handtuch die Hände ab. »Ihr vergrault mir mit eurem Katzengesang die gesamte Mittagskundschaft.«
    »Darum geht’s doch, Rod«, antwortete der Heilsarmist und grinste schief. »Kannst ja die Polizei rufen, wenn du uns loswerden willst. Dann kannst du morgen was in der Zeitung darüber lesen.«
    »Eher hole ich die Skeleton Army, die hat schließlich bewiesen, dass sie mit euch Memmen fertigwird«, antwortete der Wirt und deutete auf Adams Zahnlücke. Dann wandte er sich an mich und fragte: »Was darf’s sein, Sir? Ich kann das Lammbries empfehlen. Ganz frisch vom Metzger.«
    »Lieber keine Innereien«, antwortete ich kopfschüttelnd, schaute auf die Schiefertafel, die hinter dem Schanktisch hing, und entschied mich stattdessen für das Kalbsragout mit Worcestershire-Soße. »Und ein großes Porter.« Dass es ein Barclay & Perkins Stout war, störte mich nicht.
    »Kommt sofort«, antwortete der Wirt, zapfte das Bier, stellte es auf die Anrichte und verschwand in der Küche.
    »Was macht so ein feiner Pinkel wie Sie denn in einer Kneipe wie dieser?«, fragte der Heilsarmist und starrte auf das Porter, das direkt vor seiner Nase stand.
    »Das George Inn gehört Barclay und Perkins, schon vergessen?«, antwortete ich und wunderte mich über den beinahe gierigen Blick des Mannes. »Wollen Sie auch eins?«
    »Ich trinke nicht!«, rief er, und es klang, als müsste er sich selbst davon überzeugen. »Ich bin ein Soldat des Heils. Schon vergessen?«
    Ich stand auf, holte mir das Bier vom Tresen, setzte mich wieder, hob bedauernd die Achseln und sagte: »Prost, Bruder Adam!«
    Er bedachte mich mit einem hasserfüllten Blick und wandte sich dann ab.
    Nur wenig später kam der Wirt mit dem überbackenen Ragout aus der Küche, das er zwar in einem schmierigen Tontopf, aber mit einem »Wohl bekomm’s!« servierte. Die oberste Schicht des Ragouts war vom langen Stehen im Ofen völlig vertrocknet und verkohlt, dafür war der Rest des Würzfleischs verkocht. Ich hätte vermutlich das Bries nehmen sollen.
    »Und du weißt wirklich nicht, wo sie ist, Rod?«, wurde ich durch die Stimme des Salutisten von meinem ungenießbaren Essen abgelenkt.
    »Wie oft soll ich es dir noch sagen, Adam?«, antwortete der Wirt und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, Kumpel. Ich habe sie seit Samstag nicht gesehen.«
    »Kannst du mir schwören, dass ihr euch nicht heimlich getroffen habt?«, hakte Bruder Adam nach.
    »Warum fragst du überhaupt, wenn du mir ohnehin nicht glaubst?«, erwiderte der Wirt verärgert. »Und warum heimlich? Wenn ich mich mit ihr treffen wollte, dürfte jeder davon erfahren. Sogar du! Denn wenn ich dich richtig verstanden habe, hast du keinerlei Ansprüche auf die junge Dame.«
    »Ich bin für sie verantwortlich«, rief der Heilsarmist und warf sich in die Brust. »Und ich werde es nicht zulassen, dass du sie ins Unglück stürzt.«
    »Jetzt komm mal von deinem hohen Ross runter!«, knurrte der Wirt, jetzt sichtlich genervt. »Vor mir ist sie jedenfalls nicht davongelaufen. Und ich will gar nicht wissen, was du vorher mit ihr angestellt hast. Wie ich gehört habe, hast du dich ja vor dem Frauenasyl aufgeführt wie ein Wahnsinniger. Komm mir also nicht mit Moralpredigten, Adam!«
    »Woher weißt du das?«, entfuhr es dem anderen.
    »Man hört so einiges«, antwortete der Wirt lachend. »London ist ein Dorf.«
    Bruder Adam wollte etwas erwidern, doch er überlegte es sich anders, starrte missmutig auf seine Finger und murmelte: »Du hättest ihr das Foto nicht geben dürfen.«
    »Warum nicht?«
    »Es war nicht richtig!«
    »Unsinn! Es war nur ein Foto.«
    In diesem Augenblick klopfte Major Pringle von außen ans Fenster und machte den Heilsarmisten in der Schänke ein Zeichen, hinauszukommen. Offensichtlich war die Protestaktion seines

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