Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Street.«
»Eine gute Idee«, antwortete er und zwinkerte mir zu. »Meredith mag so was. Sie sammelt diese bunten Kabinettkarten, ganze Alben hat sie davon voll. Und von dir hat sie noch kein Foto, wenn ich richtig unterrichtet bin. Wird auch Zeit.«
»Ja, es wird Zeit«, sagte ich und ging hinaus.
9
Als ich das Firmengelände durchs Haupttor verließ und in Richtung Themse ging, bemerkte ich, dass der Nebel sich wieder verdichtet hatte. Obwohl es bereits Mittag war, stand die Sonne als blasse Scheibe am Himmel und drang kaum durch den Dunst, der hier in Southwark nach Essig, Brausud und schwefliger Kohle roch. Eine Eisenbahn ratterte direkt über mir, im Bogen von der London Bridge Station kommend, über den Viadukt zum Bahnhof Cannon Street und verschwand mitten über dem Fluss im Nebel. Vom gegenüberliegenden Nordufer der Themse war nichts zu sehen, nicht einmal die Kathedrale von St. Paul ließ sich in dem undurchdringlichen Graugelb erkennen.
Eigentlich hatte ich vorgehabt, im Anchor Pub zu Mittag zu essen, doch die Nähe zur Brauerei erschien mir in diesem Moment unerträglich und nahm mir jeden Appetit. Deshalb ging ich unter der Eisenbahnbrücke hindurch nach Osten, wo sich die Clink Street zwischen Fabriken und Lagerhallen am Ufer entlangschlängelte. Die Straße führte am baufälligen Dock von St. Mary Overy vorbei bis zum Friedhof von St. Saviour. Angeblich war unser Urahn Jeremiah, der Gründer des Ingram-Unternehmens an der Piccadilly, vor etwa zweihundert Jahren in dieser Gegend zur Welt gekommen, und zwar als Sohn eines merkwürdigen Kauzes, der einen Großteil seines Lebens unter Räubern, Dirnen oder im Irrenhaus verbracht hatte. So jedenfalls berichtete es eine der zahlreichen Ingram-Legenden, die mein Vater so liebte.
Die alte gotische Kirche wirkte zwischen den Fabriken, Dockanlagen und dem Viadukt der Eisenbahn, der nur wenige Schritte entfernt am Friedhof vorbeiführte, wie eine untergehende Bastion, die von übermächtigen Feinden umzingelt war. Ich benutzte den verfallenen und von Unkraut überwucherten Friedhof als Abkürzung zur Southwarker Hauptstraße. Über mir donnerte eine weitere Eisenbahn über die Hochtrasse und ließ die Grabmale und Kreuze zu ihren Füßen erbeben. In einer Ecke des Friedhofes, in unmittelbarer Nähe des Viadukts, stand eine Statue, die mir aus mehreren Gründen ins Auge sprang. Einerseits war die Skulptur durch die ständigen Erschütterungen so stark beschädigt, dass es schien, als könnte sie jeden Augenblick in sich zusammenfallen, auf der anderen Seite wirkte sie auf einem anglikanischen Friedhof seltsam deplatziert. Es handelte sich um das Standbild eines nackten Jünglings und einer gleichfalls unbekleideten Frau. Der Mann, dem zwei Flügel aus dem Rücken wuchsen, stand hinter der Frau, umklammerte ihre Brüste und ihre Schulter und wurde von seiner sich an ihn schmiegenden Partnerin mit schmachtendem Blick regelrecht verzehrt. Vermutlich handelte es sich um die Darstellung irgendeiner mir unbekannten biblischen Szene. Was mich allerdings verwunderte, war die Freizügigkeit der Darstellung, die eher erotisch als andächtig wirkte. Die Statue schien sehr alt zu sein, wie an den Rissen und der Verfärbung zu erkennen war. Das Rattern der Eisenbahnen würde sie vermutlich bald dem Erdboden gleichmachen. Dennoch ließ mich das seltsame Standbild einen Moment verharren, bis mich das Pfeifen einer Lokomotive und das Knurren meines Magens aus meinen wirren Gedanken rissen und ich wie ein Getriebener zur Straße lief.
Schräg gegenüber von St. Saviour, jenseits der Bahntrasse, befand sich das inzwischen in die Jahre gekommene und etwas verlotterte George Inn, und als ich vor dem schmalen Eingang zum Yard eine uniformierte Gruppe erkannte und erbauliche Lieder singen hörte, stand für mich fest, wo ich zu Mittag einkehren wollte. Ich überquerte die Straße, näherte mich dem singenden Korps von Major Pringle und wurde von diesem mit einem angedeuteten Bückling begrüßt. Er und seine Mitstreiter hatten sich tatsächlich strategisch günstig aufgebaut, nicht nur, weil sie den einzigen Zugang zum Hof des Inns versperrten, sondern zudem sämtlichen Besuchern der gegenüberliegenden Markthalle von Borough Market mit ihrem Trällern in den Ohren lagen; auch wenn das Getöse der Bahn manch eine erbauliche Botschaft übertönte.
Die Salutisten ließen mich passieren, nachdem sie mir ein Halleluja ins Ohr geschrien und ein Flugblatt in die Hand gedrückt
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