Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
sich auf dem gleichen Stockwerk wie die Rezeption befand, stank es nach Alkohol, Schweiß und Urin. Aus dem Nebenraum war das lautstarke Fluchen und heftige Streiten mehrerer Männer zu hören, ohne dass es Mrs. Adams weiter kümmerte. Den Gestank nahm sie vermutlich gar nicht mehr wahr, und das Geschrei und Gezeter schien sie geflissentlich zu überhören.
Erleichtert hatte Celia erfahren, dass Maureen zwar im Haus der Adams wohnte, allerdings nicht im Nachtasyl für Frauen im zweiten Stock. Es gab eine winzige Mansarde unter dem Dach, die vom People’s Palace reserviert worden war, um hier Gäste und reisende Künstler vorübergehend unterzubringen. Wie Maureen kurz darauf bei ihrer Begrüßung erzählte, habe man bereits ein eigenes Gästehaus auf dem Gelände des Volkspalastes gebaut, doch es werde noch eine Weile dauern, bis die Wohnungen bezugsfertig seien. Dass man Maureen ausgerechnet die schäbige Dachkammer der Mrs. Adams zur Verfügung stellte, sagte einiges über den Stellenwert aus, den man Maureen beimaß. So dachte Celia bei sich, sagte es aber nicht, sondern bedankte sich erneut und aufrichtig, dass Maureen sie bei sich aufnahm.
»Ach was!«, winkte Maureen ab und schüttelte sichtlich erfreut Celias Hand. »Bin doch froh, nicht allein in dieser Bruchbude wohnen zu müssen.«
Bei der Berührung ihrer Hand schrie Celia gequält auf. Die Wunde am Zeigefinger hatte sich entzündet, und der Schmerz strahlte bis in den Unterarm aus. Maureen ließ erschrocken die Hand los, besah sich die Wunde und sagte: »Damit solltest du zum Arzt gehen.«
»Die Entzündung ist von allein gekommen«, antwortete Celia und stellte den Koffer mit ihren wenigen Habseligkeiten auf dem staubigen Boden ab. »Also geht sie auch von allein. Das hat meine Mutter immer gesagt.«
»Und?«, fragte Maureen und führte Celia in eine winzige Kammer, die sowohl als Küche, Bad und Essraum diente. »Ist deine Mutter gut damit gefahren?«
»Sie ist an Typhus gestorben«, sagte Celia und wusste selbst nicht, ob sie das als Antwort auf Maureens Frage meinte.
Die Entzündung im Finger war über Nacht nicht schlimmer geworden. Jedenfalls nicht sichtbar. Und auch der Schmerz bei Berührung war unverändert, fand Celia. Ein gutes Zeichen. Vermutlich hatten ihre Kopfschmerzen mit den wüsten Gedanken und Alpträumen zu tun, die sie in der Nacht gepeinigt hatten. Das Bild aus der Zeitung, mit dem Rettungsboot und den vier Männern darin, war ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Ein getöteter Kabinenjunge, zwei zum Tode verurteilte und später begnadigte Seemänner und ein verschollener Judas. Edmund Brooks, genannt Ned. Der Kannibale des Meeres. Eine monströse Attraktion im Gruselkabinett des Silberkönigs in der Whitechapel Road Nummer 123. Was für ein Schreckensreigen!
Doch es gab ein zweites Bild, das Celia im Schlaf heimgesucht hatte. Das Foto einer hübschen, jungen Frau in Weiß. Mary Brooks, damals noch Mary Tremain. Im Sonntagsstaat, mit neckisch forschem Blick. Ein gerahmtes Foto aus dem Treppenhaus des George Inn, das einem längst verstorbenen Wirt gehört hatte, von dem ihre Mutter immer nur widerwillig und mit Abscheu gesprochen hatte. Rodney Webster, ein vermutlich ebenso lüsterner und unverschämter Bursche wie sein segelohriger Sohn Rod, der heute das Inn leitete und sich Celia so aufdringlich genähert hatte.
Das passte alles nicht zusammen, dachte Celia, als sie sich schwerfällig von ihrem Lager erhob, um den Ofen in der Küche zu heizen und Wasser aus dem Erdgeschoss zu holen. Als es sie vor wenigen Tagen nach London verschlagen hatte, war sie auf der Suche nach ihrem verschwundenen Vater gewesen, doch inzwischen glaubte sie beinahe, dass ihr auch die Mutter entglitten war. Fremd geworden. Voller Geheimnisse und unbekannter Seiten. Und es beschlich sie das beunruhigende Gefühl, sich auf nichts und niemanden verlassen zu können. Vermeintliche Freunde wie Adam Bedford entpuppten sich als streitsüchtige Peiniger, gottesfürchtige Seeleute als blutrünstige Menschenfresser, arme Dienstmägde als hübsche … ja, was? Celia musste sich eingestehen, dass es vor allem der fröhliche und kecke Blick ihrer Mutter auf dem Foto war, der sie so erstaunte und ihr missfiel. Das war ungerecht, das wusste Celia sehr wohl, doch sie hatte ihre Mutter nie anders als traurig, verbittert oder verhärmt erlebt. Stets hatte Mary Brooks über ihr Leid geklagt, über ihren trunksüchtigen Mann, ihre ungezogenen Kinder, ihr
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