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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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freudloses Leben in Brightlingsea. Nur wenn sie von ihrer Zeit in London erzählt hatte, war hinter der Verbitterung eine Art Wehmut oder Sehnsucht zu erkennen gewesen. Und wenn Celia das Foto betrachtete, bekam sie eine Ahnung davon, wonach sich ihre Mutter gesehnt hatte.
    Nachdem Celia den Tisch gedeckt, Brot geschnitten, Porridge und Tee gekocht und Maureen geweckt hatte, saß sie schweigend und ohne Appetit am Tisch und beobachtete Maureen, die mit vollem Mund plapperte und voller Vorfreude von ihrem ersten Auftritt am heutigen Abend schwärmte. Selbst mit Schlaffalten im Gesicht und zerzaustem Haar sah sie wunderschön aus, fand Celia. Wie ein Engel. Am Nachmittag sei die abschließende Probe, erklärte Maureen, und Celia solle um drei Uhr mit der Kostümtasche und dem ledernen Schminkköfferchen im People’s Palace sein. Alles Weitere werde Maureen ihr vor Ort erklären.
    »Was ist mit dem Mittagessen?«, fragte Celia und schlürfte den bitteren Tee, den sie zu lange hatte ziehen lassen.
    Maureen schüttelte den Kopf und sagte: »Ich muss gleich los und ein paar Besorgungen machen. Ich esse unterwegs. Du kannst ja inzwischen das Nötigste einkaufen und den Boden wischen. Der hat bestimmt seit Monaten kein Wasser zu Gesicht bekommen.«
    »Zu Gesicht?«, fragte Celia und bemerkte, dass sie gar nicht richtig zugehört hatte. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren, und sie hörte alles wie durch Watte. Vielleicht hatte sie sich erkältet. Das würde auch den Schüttelfrost und den Kopfschmerz erklären. Aber ihre Nase war gar nicht verschnupft.
    Maureen schaute sie verwundert an. »Ist mit dir alles in Ordnung?«, fragte sie und legte einige Münzen auf den Tisch. »Du guckst so komisch.«
    »Nur etwas Kopfschmerzen. Ich hab nicht gut geschlafen.« Celia deutete auf das Geld und fragte: »Was soll ich damit?«
    »Einkaufen, Schätzchen.«
    »Ach ja, richtig. Entschuldige!« Ein weiterer Schauer fuhr ihr über den Nacken, der sich ganz steif und verspannt anfühlte. »Also kein Mittagessen?«
    Maureen verdrehte die Augen, kippte ihren Tee hinunter und stand auf. »Wir sehen uns um drei, Celia«, sagte sie und verließ die Küche. »Sei bitte pünktlich!«
    Nachdem Celia die Küche aufgeräumt, die Betten gemacht, den Boden geschrubbt und überall Staub gewischt hatte, war sie wie benebelt. Es kam ihr vor, als hätte sie im Übermaß Alkohol getrunken, und sie fragte sich, ob aus der nach Chlor stinkenden Natronlauge, die sie in einem Schrank neben dem Ofen gefunden und mit der sie die Dielen gesäubert hatte, womöglich giftige Dämpfe aufgestiegen waren. Jedenfalls war sie froh, als sie endlich nach draußen kam und einkaufen gehen konnte.
    Da es in der unmittelbaren Nachbarschaft weder einen Bäcker noch andere Lebensmittelhändler gab, ging sie auf der White Horse Lane nach Norden, bis sie die viel befahrene und vor Läden wimmelnde Mile End Road erreicht hatte. Doch als sie schließlich in der Hauptstraße stand, hatte sie vergessen, weshalb sie eigentlich hergekommen war. Sie schaute sich verwundert um, als wäre sie just in diesem Moment aus einem Traum erwacht. Die vielen Davidsterne an den Mauern oder über schmiedeeisernen Eingängen ringsum erstaunten sie. Links eine Synagoge, rechts ein deutsch-jüdisches Krankenhaus, gegenüber ein jüdischer Friedhof. Und überall Schilder mit deutschen Worten oder unleserlichen Schriftzeichen.
    Ein Omnibus näherte sich von Osten. Jedenfalls glaubte sie, dass es Osten war. Auf einem Schild an der Seite las sie: »Fenchurch Street Station«. Unwillkürlich fasste sie sich an die Brust. Dort, in der Innentasche ihres Mantels, hatte sie die beiden Fotos verstaut, die Visitenkarte von Maureen und das Kabinettporträt ihrer Mutter. Dann griff sie in die linke Außentasche und befingerte die Münzen, die Maureen ihr gegeben hatte. Zu welchem Zweck eigentlich? Ohne weiter darüber nachzudenken, bestieg sie kurzentschlossen den Bus, zahlte einen Penny und fuhr in Richtung City.

2
    Als Celia vor zwei Tagen mit Adam an dem Fotostudio in der Fenchurch Street vorbeigefahren war, hatte sie den Namen Newcombe nirgendwo an der Fassade oder in den Schaufenstern erkennen können. Und auch jetzt, da sie direkt vor dem Eckhaus an der Cullum Street stand und zu den Schildern und Reklametafeln emporblickte, stellte sie ernüchtert fest, dass lediglich der Name Taylor darauf vermerkt war. Die Enttäuschung steigerte sich noch, als sie im Laden von einem Mitarbeiter im blauen Kittel

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